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Karl Müller. Foto: Nina Jakl widerstehenden Erinnerns, als Ort des Benennens von Angst und der Klage über das skandalöse Unbewegbare: Die Häuser stehen und sie brechen, sie brechen nicht auf beim Aufstieg der Schreie, sie brechen nicht auf! Sie stehen Als sei nichts geschehen“ Rotenbergs Texte sind dem gemäß, was Theodor W. Adorno in seiner „Rede über Lyrik und Gesellschaft“ (1957) über das „Gedicht“ geschrieben hat: „Denn der Gehalt eines Gedichtes ist nicht bloß der Ausdruck individueller Regungen und Erfahrungen. Sondern diese werden überhaupt erst dann künstlerisch, wenn sie, gerade vermöge der Spezifikation ihres ästhetischen Geformtseins, Anteil am Allgemeinen gewinnen. [...] die Versenkung ins Individuierte erhebt das Iyrische Gedicht dadurch zum Allgemeinen, dass es Unentstelltes, Unerfasstes, noch nicht Subsumiertes in die Erscheinung setzt [...]. Von rückhaltloser Individuation erhofft sich das lyrische Gebilde das Allgemeine. [...] Jene Allgemeinheit des Iyrischen Gehalts jedoch ist wesentlich gesellschaftlich. Nur der versteht, was das Gedicht sagt, wer in dessen Einsamkeit der Menschheit Stimme vernimmt.““ Diese „Einsamkeit der Menschheit Stimme“ ist in Stella Rotenbergs Texten, nicht zuletzt in der trotz Verzweiflungsund Verlusterfahrung unentwegten Beschwörung des Lebens faßbar, so wie Theodor Kramers Bannung der Verzweiflung durch sein Lob der Verzweiflung zum Ausdruck kommt. Der Theodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und Exil ist der erste Literaturpreis überhaupt, der in Österreich dem Schreiben der Exilierten, dem Schreiben im Widerstand gewidmet ist. Aus kaum einem Land der Welt wurden die Schreibenden in dem Ausmaß vertrieben und in die Todeslager deportiert wie aus dem zur Ostmark gewordenen Österreich. Die Theodor Kramer Gesellschaft kann mit dem Theodor Kramer Preis nicht wieder gut machen, was jahrzehntelang versäumt worden ist. Aber sie kann eine kleine, hoffentlich begehbare Brücke zum Exil, zu seinem immer noch kaum erschlossenen geistigen und künstlerischen Reichtum schlagen. Um den Preis zu dotieren, hat die Theodor Kramer Gesellschaft 4.912 Briefe an InhaberInnen politischer Mandate in Österreich geschrieben. Darin wurde darauf hingewiesen, daß man mit dem Preis ein Zeichen setzen wolle, „daß in Österreich nicht alles in eine Richtung verläuft, daß dies ein Land mit seinem Widerspruch ist und im Widerspruch und Ringen mit sich selbst auch weiterschreitet“. Leider haben die meisten Mandatare darauf nicht reagiert. Kurzum: Es wurde kein Zeichen gesetzt, es verlief alles so, wie man es realistischerweise hätte erwarten müssen. Die Liste der 36 Spenderinnen und Spender ist auf unserer Homepage einzusehen. Zum Glück haben das Land Niederösterreich, die Stadt Wien und der Bezirk Wien-Leopoldstadt etwas beigesteuert, beteiligt sich die Grazer Autorenversammlung ideell und finanziell als Mitveranstalterin der Preisverleihung — herzlichen Dank an Marie-Thérése Kerschbaumer — und stellt die jüdische Organisation ESRA einen würdigen Ort für die Preisverleihung zur Verfügung. Ihnen allen sei von Herzen gedankt! Der Dank gilt auch Hildegard Stöger, deren Bilder hier ausgestellt sind, und Christian Thanhäuser, der anläßlich dieser Preisverleihung zwei Holzschnitte zum bibliophilen Druck von zwei Gedichten von Stella Rotenberg geschaffen hat: Nicht zufällig handelt es sich dabei auch um das Gedicht „An den Quell“, dieser wundervoll poetischen Bitte an die Kräfte der Kreativität. Weit über 200 Menschen nahmen am 23. April an der erstmaligen Verleihung des Theodor Kramer Preises für Schreiben im Widerstand und Exil in den Räumen der jüdischen Organisation ESRA, Wien-Leopoldstadt, teil. Da Karl Müller, der Vorsitzende der Theodor Kramer Gesellschaft, erkrankt war, verlas Konstantin Kaiser seinen Beitrag. Die von Siglinde Bolbecher gehaltene Laudatio werden wir in ZW später und aus gutem Anlaß veröffentlichen: Im Herbst 2001 sollen Stella Rotenbergs „Gesammelte Gedichte“ im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft erscheinen. Stella Rotenberg wurde auch im Adalbert-Stifter-Haus in Linz und in der neuerrichteten jüdischen Synagoge in Graz (dank der Initiative von Beatrix Müller-Kampel) vorgestellt. In den Zeitungen „Die Presse“ und „Der Standard“ veröffentlichten Konstantin Kaiser bzw. Erich Hackl ausführliche Würdigungen der Preisträgerin. Der Preis und die Preisverleihung wurden gefördert vom Land Niederösterreich, der Stadt Wien und dem Bezirk Wien-Leopoldstadt. Im Jahre 2002 wird der Preis in Zusammenarbeit mit dem Unabhängigen Literaturhaus Niederösterreich voraussichtlich in der Stadt Krems vergeben. Anmerkungen 1 Ungewissen Ursprungs. In: Stella Rotenberg: Scherben sind endlicher Hort (1969). Wien 1991, 46. 2 Ichbin so viel zu Haus und bin schon nicht mehr hier. In: Theodor Kramer: Gesammelte Gedichte 1. Wien 1984, 370. 3 Ich suche Trost im Wort. Ebenda, 362. 4 Stella Rotenberg: Klage um den Verlust der Muttersprache (1968). In: Scherben sind endlicher Hort, 87. 5 Stella Rotenberg: Auf Besuch in Deutschland nach dem Jahr 1945 (1963). In: Scherben sind endlicher Hort, 44 6 Stella Rotenberg: Besuch im Heimatort II (1975). In: Scherben sind endlicher Hort, 43. 15