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Als wir uns kennenlernten, war ich fast 19 Jahre alt und sie etwas jünger. Gisela, das war ihr Name, war sehr hübsch, und ihr Gesicht wurde von strahlenden dunkelblauen Augen beherrscht; wenn sie lachte, sah man die weiße Perlenreihe ihrer Zähne, und dann war sie entzückend. Sie war nicht groß, aber wohlgestalt. Wir waren beide Studenten im ersten Semester an der juridischen Fakultät der Universität Wien. Da wir in derselben Gegend wohnten, trafen wir uns manchmal am Heimweg. Nach kurzer Zeit verwandelte sich das sporadische Treffen in ein regelmäßiges, und ich wartete manchmal mit Ungeduld auf das Ende der Vorlesung, um mit ihr zusammen nach Hause zu gehen. Anfangs sprachen wir von Problemen des Studiums, doch bald kamen wir auch auf andere Themen und fanden, daß wir viele gemeinsame Ansichten hatten. Wie nicht anders zu erwarten war, verliebte ich mich nach kurzer Zeit. Sie stammte aus einer kleinbürgerlichen, religiösen Familie und war Männern gegenüber zurückhaltend. Deshalb war ich sehr vorsichtig in meinem Umgang mit ihr, und es dauerte einige Zeit, bis sie meine Gefühle erkannte. Von da ab erwärmten sich auch für mich, und nach nicht langer Zeit war es Liebe von beiden Seiten. Eine herrliche, eine glückliche Zeit begann für uns. Wir gingen zusammen ins Kino, ins Theater und zu Konzerten. Wenn wir nicht bei unseren Familien sein mußten, machten wir an Sonntagen Ausflüge in den Wiener Wald. Außerdem waren wir Mitglieder einer Studentenvereinigung und nahmen oft an deren Veranstaltungen teil. Jede dieser gemeinsamen Unternehmungen verursachte in mir ein neues Gefühl des Glücks und verstärkte meine Liebe. Es währte nicht lange, daß auch unsere Körper dieselbe Leidenschaft fühlten. Wir waren beide unerfahren auf diesem Gebiet, aber die Gefühle ließen sich nicht unterdrücken, und so wurden wir ein Liebespaar im vollen Sinne des Wortes. Ich fand ein Zimmer bei einer alten Witwe in einer abgelegenen Straße, wo wir uns ein— bis zweimal in der Woche trafen. Um Verdacht zu vermeiden, kamen und gingen wir immer getrennt. Hier konnten wir unsere Liebe ungestört genießen. Im Rückblick war es die schönste Zeit meines Lebens. Im Sommer 1936 veranstaltete die Studentenvereinigung eine dreiwöchige Urlaubsreise nach Makarska an der dalmatinischen Küste. Gisela meldete sich an und freute sich besonders auf das Meer. Ich konnte leider nicht mitfahren; ich stand vor besonders wichtigen Prüfungen und mußte mich intensiv vorbereiten, um mit gutem Erfolg abzuschneiden. Während Giselas Aufenthalts in Makarska bestand unsere Verbindung fast ausschließlich in Postkarten. Das Telefonamt in Makarska war sehr primitiv und meistens unbenutzbar. Aus Giselas Karten entnahm ich, daß sie besonders das Schwimmen im Meer genoß, daß sie unter den Teilnehmern einige nette und sympathische Menschen kennengelernt hatte, und daß das gesellige Leben dort in den Abendstunden sehr florierte. Die drei Urlaubswochen kamen mir viel länger vor, aber endlich waren sie vorbei, Gisela kam zurück und wir nahmen unser gemeinsames Leben wieder auf. Gisela kam mir etwas verändert vor, aber ich beschloß, dies nur als einen subjektiven Eindruck zu werten. Eines Tages traf ich einen Kollegen, der in Makarska gewesen war und von dem Urlaub mit großer Begeisterung sprach. Er erwähnte, daß Gisela in Makarska großen Erfolg gehabt hätte und ständig von Verehrern umgeben gewesen sei, die sie mit Blumen und Bonbonnieren überschütteten. Nach seinen Erzählungen hatte sich Gisela durch Flirts mit vielen Teilnehmern ausgezeichnet, aber ihr bevorzugter Partner war ein gewisser Hans K. gewesen, mit dem sie ständig zusammengesteckt hatte. Nach allgemeiner Meinung stand sie mit ihm in einer intimen Beziehung. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Meine Gisela sollte sich so benommen und eine Liebschaft begonnen haben? Ich konnte es nicht fassen. Als erstes sagte ich das Treffen, das an diesem Tag stattfinden hätte sollen, mit einer Ausrede ab. Einige Tage ging ich wie betäubt umher, konnte mich nicht konzentrieren und nicht schlafen, obwohl ich Schlafmittel einnahm. Schließlich entschied ich mich, bei der nächsten Zusammenkunft alles daran zu setzen, um die volle und ganze Wahrheit zu erfahren. Bei unserer Zusammenkunft wartete ich nicht die üblichen Eingangsfloskeln ab, sondern fragte Gisela sofort, was sich in Makarska ereignet habe. Sie war über die Frage sehr erstaunt und antwortete, sie habe mir schon alles erzählt. Darauf entgegnete ich mit gehobener und scharfer Stimme, daß ich von einem vertrauenswürdigen Kollegen erfahren hätte, daß sie in Makarska mit einigen Teilnehmern intensiv geflirtet habe und mit einem Studenten namens Hans K. eine sehr enge Bindung eingeangen sei. Gisela war von dieser Anschuldigung überaus getroffen, nicht nur von meinen Worten, sondern auch von dem ungewohnt scharfen Ton. Zuerst war sie sprachlos, und dann sagte sie mit zitternden Lippen, daß diese Anschuldigung auf einer gemeinen Lüge beruhe. Ich wurde immer aufgeregter und sagte: „In Makarska hast Du mich betrogen und jetzt willst Du mich belügen.‘“ Diese neuerliche Anschuldigung traf sie wie ein Faustschlag. Sie wurde abwechselnd bleich und rot und konnte kein Wort herausbringen. Ihr Benehmen schien mir meine Verdächtigungen zu bestätigen. Fast schreiend fuhr ich sie an: „Ich kann dir nicht mehr vertrauen; es ist aus zwischen uns.“ Mit diesen Worten verließ ich das Zimmer. Meine Aufgeregtheit hielt einige Tage vor und wurde von einer tiefen Depression abgelöst. Ich vermied, Gisela in der Universität zu sehen, was mir um so leichter fiel, als wir zu dieser Zeit in verschiedenen Semestern studierten. Zudem mied ich alle Plätze, wo Gefahr bestand, sie zu treffen. Ich stürzte mich mit doppelter Energie in meine Studien und verließ wochenlang nicht das Haus. Nach Jahren hörte ich, daß Gisela geheiratet habe; einige Jahre später war sie verwitwet und heiratete zum zweiten Mal, ließ sich aber vom zweiten Mann scheiden. Danach verlor ich sie aus den Augen. Nachdem ich meine Studien- und Konzipientenzeit beendet hatte, etablierte ich mich als selbständiger Rechtsanwalt. 17