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Einige Jahre später heiratete ich eine Berufskollegin; unsere Ehe war nicht glücklich und wir ließen uns scheiden, wir verblieben aber in gutem persönlichen Einvernehmen. Ich heiratete nicht mehr. Als ich vor einigen Tagen in meinem Bücherschrank herumstocherte, fand ich ein nicht aufgeschnittenes Buch; beim Aufschneiden fiel ein Brief heraus. Ich erkannte sofort Giselas Handschrift und ersah aus dem Poststempel, daß der Brief Anfang 1937 abgeschickt worden war. Mit zitternden Händen öffnete ich das Kuvert und entfaltete einen Brief auf dünnem rosa Papier, auf dem Gisela ihre Briefe zu schreiben pflegte. Das war der Inhalt des Briefes: „Wir haben uns schon mehrere Monate nicht gesehen, aber ich kann nicht umhin, Dir zu Deinem 25. Geburtstag zu gratulieren und Dir von vollem Herzen alles Gute zu wünschen. Als wir uns das letzte Mal sahen, waren wir beide nicht in der Lage, ruhig zu denken und zu sprechen. Ich bin Dir und mir selbst schuldig, die Wahrheit über Makarska zu erzählen; vielleicht wird es leichter sein, dies schriftlich zu tun. Es ist richtig, daß ich in Makarska großen Erfolg hatte und von Verehrern umschwärmt wurde. Es ist nicht richtig, daß ich mit vielen flirtete; ich führte ein oder zwei harmlose Flirts, wie das unter diesen Umständen üblich ist. Die übertriebene Mitteilung Deines “Vertrauensmannes’ stammt wahrscheinlich von einem Verehrer, den ich abgewiesen hatte und der sich dafür rächen wollte. Unter meinen Verehrern war Hans K. der ausdauerndste. Er verfolgte mich direkt, und wo immer ich war, schloß er sich mir an. Eines Tages fiel er vor mir auf die Knie und gestand mir seine Liebe, auf die ich ihm eine abweisende Antwort gab. Jedoch ließ er sich davon nicht abschrecken. Je zurückhaltender ich war, desto stürmischer war er in seinen Liebesbeteuerungen. Am Vorabend unserer Rückfahrt kam er zu mir und bat mich mit Tränen in den Augen, ihm einen Abend zu ‘schenken’. Er bat so eindringlich und war so unglücklich, daß ich schließlich nachgab. Beim Abendessen traktierte er mich fortwährend mit dem süffigen Dalmatiner Wein, bis ich einen etwas schweren Kopf bekam. Anschließend gingen wir in ein Nachtlokal. Das Lokal war abgedunkelt und für Musik sorgte ein Barpianist, der vorwiegend sentimentale Melodien spielte. Beim Tanzen schmiegte sich mein Partner sehr eng an mich, flüsterte mir Liebesworte ins Ohr und gab mir hie und da einen sanften Kuß. Die süßlichsentimentale Atmosphäre des Lokals, die körperliche Nähe meines Partners und der Einfluß des Weins verfehlten nicht ihre Wirkung auf mich und so gab ich schließlich halbwissend dem Drängen meines Partners nach. Am nächsten Tag wurde ich von einigen Teilnehmern mit einem zweideutigen Lächeln empfangen; eine Kollegin, die wegen ihrer bissigen Zunge bekannt war, fragte mich: “Habt Ihr Eure Liaison würdig beendet?’, und so erfuhr ich zu meinem Entsetzen, daß Hans K. den meisten Mitfahrern unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte, daß wir ein Liebespaar waren und einen geheimen intimen Roman führten. Ich wurde sofort von großer Aufregung erfaßt und stellte Hans K. zur Rede. Auf meine Anschuldigungen antwortete er nicht; meine Aufgeregtheit stieg immer mehr an und es wäre wahrscheinlich zu einer handgreiflichen Reaktion meinerseits gekommen, hätten sich die anderen nicht eingemischt und ihn aus dem Zimmer gedrängt. Nachdem sich meine Aufregung gelegt hatte, verstand ich, daß ich mich in einem schweren Dilemma befand. Ich kenne 18 Deine strikte und konservative Einstellung und fürchtete, daß Du die besonderen Umstände nicht verstehen und weitgehende Konsequenzen ziehen würdest. Andererseits Konnte ich mir nicht vorstellen, meine Beziehung zu Dir mit einer Lüge im Herzen fortzuführen. Schließlich dachte ich, daß es meine Pflicht sei, Dir die Wahrheit zu erzählen, daß ich es aber zu einem späteren Zeitpunkt tun würde. Ich zog nicht in Betracht, daß Du die Angelegenheit auch von einer anderen Seite erfahren könntest. Glaube mir, daß sich an meiner Liebe zu Dir nichts geändert hat und daß ich nichts Sehnlicheres wünsche, als zu Dir zurückzukehren. Ich bitte Dich inständig, prüfe Dich nochmals mit Kopf und Herz, und hoffe, daß Du zur richtigen Entscheidung kommen wirst. Wie immer Du entscheiden solltest, sei versichert, daß ich Dich von ganzem Herzen liebe und fortsetzen werde, Dich zu lieben.“ Beim Lesen dieser Zeilen erschienen Gisela und unsere letzte Zusammenkunft vor meinem geistigen Auge und ich beschloß, Gisela so schnell wie möglich zu sprechen. Nach einigem Herumtelefonieren erfuhr ich ihre jetzige Telefonnummer und rief sofort an. Es ergab sich folgendes Gespräch: Ich: „Kann ich Frau Gisela sprechen?“ Eine männliche Stimme am anderen Ende: „Wer sind Sie?“ Ich: „Ein alter Freund von Frau Gisela. Wer sind Sie?“ Der andere: „Ich bin Giselas Sohn. Es tut mir leid, aber meine Mutter ist vor einem Monat gestorben.“ Diese Antwort traf mich wie ein Blitz und es dauerte einige Zeit, bis ich mein seelisches Gleichgewicht wieder erringen konnte. Dann ging mir die Erkenntnis durch den Kopf: Wie unbarmherzig dieses Los war — ein nicht gedffneter Brief hatte das Lebensglück zweier Menschen zerstört. Nachman Wand, geboren am 25.4. 1913 in Czernowitz, tibersiedelte mit seinen Eltern während des Ersten Weltkrieges nach Wien, erwarb 1936 an der Hochschule für Welthandel in Wien das Doktorat, arbeitete 1937-38 in der Exportabteilung einer großen Firma und wanderte im November 1938 nach Palästina/Israel aus. Zunächst, bis zur Meisterung des Hebräischen, Hilfsarbeiter, schloß er sich 1945 der israelischen Armee an, wo er dann viele Jahre als Einkaufschef der Regierungsorganisation „Shekem“ tätig war, die für die Versorgung der israelischen Streitkräfte verantwortlich ist. Seit 1983 in Pension, lebt Nachman Wand in Bat-Yam. Hermann Hakel Zum Gedenken an den 90. Geburtstag des am 12.8. 1911 geborenen jüdischen Dichters, Übersetzers und Publizisten Hermann Hakel laden die Hermann Hakel Gesellschaft (Wien), die Theodor Kramer Gesellschaft und die jüdische Organisation ESRA am 18. Oktober 2001 zu einer festlichen Veranstaltung ein, bei der auch Hakels Übersetzungen 40 jiddischer Lyriker erstmals in einer Buchausgabe präsentiert werden sollen. (‚In den roten Tropfen tunk ich meine Feder ...“ Jiddische Gedichte des 20. Jahrhunderts. Hg. von Armin Eidherr. Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft).