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ner Philosophie, dem neuen Staat dessen eigene Herkunft aus der Krise und, daraus resultierend, den Vernichtungsauftrag beständig vor Augen zu halten: Das Fragen dieser Philosophie „ist kein müßiges Grübeln“, sagte er zu seinen Studentinnen und Studenten im Sommersemester 1933: „Zu solchem Fragen halten wir unser Schicksal aus und halten uns selbst hinaus in das Dunkel der Notwendigkeit unserer Geschichte. Dieses Fragen, in dem ein Volk sein geschichtliches Dasein aushält, durchhält in der Gefahr und Bedrohung und hinaushält in die Größe seines Auftrages, dieses Fragen eines Volkes ist sein Philosophieren, seine Philosophie. (...) Die Frage geht an uns, ob wir es erfahren und begreifen, daß die jetzige Wende des deutschen Geschicks in sich trägt die schärfste und größte Bedrängnis unseres Daseins, indem die Wende unserer Geschichte uns vor die Entscheidung stellt, ob wir dem werdenden Geschehen unseres Volkes und Staates eine geistige Welt schaffen wollen oder nicht. Wenn wir es nicht wollen und wenn wir es nicht können, dann wird irgendeine Barbarei irgendwoher über uns hinwegfegen, und wir werden die Rolle eine geschichtsbildenden Volkes endgültig ausgespielt haben.“ ” Damit fordert Heidegger für seine Philosophie so etwas wie die Führerschaft im nationalsozialistischen Staat — eine Anmerkungen 1 Bertolt Brecht: Gedichte I. Sammlungen 1918-1939. Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Werner Hecht u. a. Bd. 11. Berlin-Frankfurt 1988. S.199-201 2 Martin Heidegger: Sein und Zeit. [1927] 17. Aufl. Tübingen 1993, S.384 3 Ebd. S.384 4 Ebd. 5 Schon 1922 heißt es: „der Gegenstand der philosophischen Forschung ist das menschliche Dasein als von ihr befragt auf seinen Seinscharakter.‘“ (Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles. Anzeige der hermeneutischen Situation. In: DiltheyJahrbuch für Philosophie und Geisteswissenschaften. Göttingen 1989, Bd. 6, S.238) So lautete auch der zentrale Vorwurf, mit dem sich Heidegger von der Husserlschen Phänomenologie — als einer eigentümlich geschrumpften Form des deutschen Idealismus — endgültig verabschiedete, daß in ihr die „Seinsfrage“ nicht gestellt werde. (Vgl. die Vorlesung aus dem Sommersemester 1925: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs. Hg. v. Peter Jaeger. Gesamtausgabe. Bd. 20. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1988, S.157) Heidegger rückte damit erst nach seiner Zeit als Assistent bei Husserl heraus. Als ob er es geahnt hätte, war Husserl den großen Begriffen seiner Studenten mit der Aufforderung: „Geben Sie Kleingeld“ entgegengetreten. 6 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Gesammelte Schriften. Hg.v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1997, Bd. 6, S.111. „Was irgend unter Sein gedacht werden kann, spottet der Identität des Begriffs mit dem von ihm Gemeinten; Heidegger jedoch traktiert es als Identität, reines es selbst Sein, bar seiner Andersheit.“ 7 Heidegger, Sein und Zeit, S.266 8 Ebd. S.386 9 „Nach Fichte wirft das Ich die Welt, und nach ‚Sein und Zeit’ ist nicht erst das Ich, sondern das Da-sein, wesend vor allem Menschentum, das Geworfene.“ Martin Heidegger: Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809). [1936] Hg. v. Hildegard Feick. Tübingen 1995, 5.228 10 Heidegger, Sein und Zeit, S.2 11 G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften 22 Position, die ihr schließlich zur Enttäuschung des Philosophen von offizieller Seite nicht zugestanden wurde, und deshalb konnte in seiner Auffassung auch irgendeine Barbarei über diesen Staat hinwegfegen, allerdings ohne daß darum, wie sich zeigen sollte, die Deutschen ihre Rolle als geschichtsbildendes Volk endgültig ausgespielt haben würden. Soviel Recht wurde Heideggers Philosophie immerhin zuteil. Auch im nationalsozialistischen Deutschland wollte sich Heidegger jedenfalls nicht auf die Gegenwart festlegen lassen: „Der Wiederanfang der Philosophie und ihre Zukunft wird nicht irgendwann und irgendwie von der Weltvernunft geschaffen, er wird nur verwirklicht durch ein Volk, wie wir glauben: durch die Deutschen, nicht durch uns, sondern durch die Kommenden.“” Heidegger blieb, so gesehen, immer im Jahr 1933: ,,Wir sind nur ein Übergang, nur ein Opfer‘, und: „Alles Fragen ist ein Vorausgehen, ein Vorausfragen.“” Zweiter und dritter Teil des Essays, die in der nächsten ZW erscheinen werden, beschäftigen sich mit dem wechselvollen und doch eindeutigen Verhältnis Heideggers zum NS-Staat und mit der Demobilisierung der Heideggerschen Philosophie im Zeichen postfaschistischer „Gelassenheit“ nach 1945. im Grundrisse I. [1817] Werke Bd. 8, S.262 12 Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik. [1935] 6. Aufl. Tübingen 1998, S.154 13 Ebd. S.153f. 14 Ebd. S.154 15 Karl Marx: Das Kapital Bd.1. Marx/Engels Werke (MEW) Berlin/DDR1956 ff. (MEW) Bd. 23, S.168f. 16 Ebd. S.209f., 228, 329, 446; sowie im 2. und 3. Bd. des Kapitals: MEW Bad.24 S.175, 224 und Bd.25 S.179 17 Herbert Marcuse: Die Ideologie des Todes. In: Der Tod in der Moderne. Hg. v. Hans Ebeling. Frankfurt am Main 1965. S.114f. 18 Herbert Marcuse: Uber soziale und politische Aspekte des Nationalsozialismus. [1941] In: H. M.: Feindanalysen. Uber die Deutschen. Hg.v. Peter-Erwin Jansen. Lüneburg 1998, S.101 19 Heidegger, Sein und Zeit, S.329 u. S.373 20 Ebd. S.325 21 Ebd. S.325 22 Ebd. S.382f. 23 Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt — Endlichkeit — Einsamkeit. [Vorlesung 1929/30] Hg.v. FriedrichWilhelm v. Hermann. Gesamtausgabe Bd. 29/30. Frankfurt am Main 1983, S.243-256 24 Martin Heidegger: Rede bei einer Kundgebung der Universität Freiburg aus Anlaß einer Rede Hitlers zu Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund. In: Breisgauer Zeitung, 18.5.1933, S.3; zit.n. Victor Farias: Heidegger und der Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1989, S.175 25 Martin Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universitat. 2. Aufl. Breslau 1934, S.14f.; zitn. Farias $.159 26 [Martin Heidegger: Vorlesung über die Grundfrage der Philosophie] Vorlesungsnotizen von Helene Weiss, aus dem Nachlaß von Helene Weiss (Prof. Ernst Tugendhat, Berlin); zit.n. Farias S.191 u. 193 27 Ebd. S.195 28 Martin Heidegger: Die Universität im nationalsozialistischen Staat. In: Tübinger Chronik, 1.12.1933; zit.n. Farias S.209 29 Ebd. S.208