Jetzt, nach dem jüdischen, christlichen und russischen Neu¬
jahrsfeste und kurz vor dem chinesischen, jährt sich etwa der
Tag, an dem der Masseneinstrom jüdischer Flüchtlinge nach
Shanghai begann. Wenn es eine Leistung bedeutet, seelische,
geistige und körperliche Bedrängnis zu ertragen, ihnen mutig die
Stirn zu bieten und zu sagen nun gerade!, so haben wir in die¬
sem Jahre allerhand geleistet. Ziehen wir die Bilanz, nicht die
sachlich, gründlich fundierte, die in den nächsten Tagen die
Jewish Chronicle ziehen wird, sondern die Bilanz, die das
Gleichgewicht unserer inneren Haltung, unseres Erlebens in un¬
serer nie geahnten, unerhörten Situation auswägen soll, so ergibt
sich folgendes:
Die Passivseite: Wenn uns vor einigen Jahren jemand gesagt
hätte, daß wir einmal so leben werden, wie wir hier leben, in
Räumen, die wenig innenarchitektonische Reize, dagegen einen
dankbaren Vorwurf für jeden Regisseur darstellen, der ein Stück
zu inszenieren hat, das in der Boheme von Schwabing oder im
Quartier Latin spielt, mit luftigen Veranden mit Öfen, die das
Heizmaterial regelrecht unterschlagen, ohne einen erheblichen
Gegenwert an Wärme zu liefern, in pittoresken zum Teil nicht
unerheblich schmutzigen Lanes, wenn man uns gezeigt hätte,
was wir essen und wie wir essen, wenn man uns gesagt hätte,
daß wir auf geistige Anregung mit wenigen, höchst dankens¬
werten! Ausnahmen werden verzichten müssen, dagegen so gut
wie gar keine unmittelbare Aussicht auf rasche, gründliche Än¬
derung unserer Lage vor uns haben würden, nicht nur für uns,
sondern auch ganz besonders nicht für unsere Kinder, was hät¬
ten wir dann getan? Vielleicht hätten wir keine Überlegung ge¬
braucht, die so lang gewesen wäre wie der vorige Satz, um
unserem Leben ein Ende zu setzen.
Diese Situation, die sich für viele von uns noch erheblich ab¬
wandelt, nur für ganz wenige jedoch zum Schlechteren, ist der
entscheidende Passivposten unserer seelischen Bilanz. Es wäre
sinnlos, ihn zu „frisieren“, ihn weg zu diskutieren.
Der 2. Passivposten: Die Unsicherheit über die Lage unserer
Angehörigen, der Mangel an Nachrichten von ihnen bzw. offe¬
nen Darlegungen ihrer wirklichen Lage, die sie nicht zu geben
wagen. Der Gedanke an die hemmungslose Niedertracht und
Europäische Flüchtlinge in einer chinesischen Bar
Foto: Sammlung David Kranzler
Brutalität, die sich in „Groß-Deutschland‘“ jederzeit über sie ent¬
laden kann.
Das sind nur zwei Passivposten, aber die haben es in sich,
und wenn wir nun die Aktivseite unserer Bilanz aufstellen, so
erscheint es fraglich, ob wir diesen Passiven, dieser Leidens¬
masse im Wortsinne von „Passiven“, überhaupt Aktiva ge¬
genüberstellen, die sie irgendwie aufwiegen.
Es hat einmal jemand gesagt: Alles Glück auf der Welt beruht
auf einem Vergleich. Nur so können wir unsere heutige Lage wür¬
digen. Es ging uns in Europa gut, und wir genossen alle Vorteile,
die Zivilisation und Kultur Europas bieten können, nicht weil man
sie uns geschenkt hätte, sondern weil wir sie uns redlich erarbei¬
tet haben, und diese Arbeit selbst, diese Möglichkeit, unsere ganze
Person einsetzen zu können, war ein großes Glück. Wir müssen
uns aber vollständig von der Vorstellung frei machen, daß dieser
Zustand etwas war, dessen Fortdauer uns irgendwie garantiert ge¬
wesen wäre. Nur wenige von uns kannten wohl bislang die
Geschichte des jüdischen Volkes und waren sich darüber klar, daß
wir ihm unbedingt angehören, ob wir wollen oder nicht, mögen
wir auf diesem oder jenem weltanschaulichen Standpunkt stehen.
Damit teilen wir jedoch zugleich die Gesetzmäßigkeit, die dem
geschichtlichen Schicksal des jüdischen Volkes innewohnt. Diese
beruht seit Tausenden von Jahren in einem Wechsel von glückli¬
chen und tief unglücklichen Perioden. Wie sich die Zukunft ge¬
stalten wird, ob dieses Verhängnis ein Ende nehmen oder sich in
gleichem Rhythmus fortsetzen wird, bleibe hier unerörtert. Hier
soll nur gesagt werden, daß der Zusammenbruch, den wir hinter
uns, und die unsichere Zukunft, die wir vor uns haben, etwas ist,
was seit unerhört langer Zeit von einer gewaltigen Menge von
Menschen unserer Art erlebt und überstanden worden ist. Wir dür¬
fen also nicht nur beklagen, was wir verloren haben, sondern wir
müssen unsere jetzige Lage in Vergleich setzen zu dem, was wir
in dem Zusammenbruch erdulden mußten, den wir hinter uns ha¬
ben und der eben für jüdisches Schicksal schlechthin durchaus ty¬
pisch ist.
Es ist uns gelungen, uns auf einen der ganz wenigen Plätze
zu retten, die von der Weltkatastrophe, deren Ausmaße heute
noch in keiner Weise zu übersehen sind, bewahrt geblieben ist.
Hier leben die Nationen friedlich zusammen, die in Europa in
Feldstellungen oder in Städten hausen, denen ständig
Fliegeralarm droht. Wir können uns, weil wir wenig Geld ha¬
ben, wenig von den Gütern des Lebens leisten, in Europa kön¬
nen dies auch die Leute nicht, besonders nicht in unserer
verlorenen Heimat, die sehr viel Geld haben, weil der Mangel
an Waren groß ist und unbedingt von Tag zu Tag immer größer
werden wird. Hier können wir unsere Kräfte einsetzen, um uns
langsam und nach und nach eine Existenz für uns und die Un¬
seren zu erkämpfen. In Deutschland sind alle Menschen,
„Arier“ und solche, die nicht unter diesem nebulosen Begriff
gefaßt werden können, in den Klauen eines autoritären Staates,
für den das Individuum nur das Mittel zum Zwecke für die
Durchsetzung von irrsinnigen Plänen einer Abenteurerclique
ist, die jederzeit bedenkenlos bereit ist, über die Leichen von
Untertanen jeder Rasse hinwegzugehen. Wenn in Europa der
Krieg zu Ende sein wird, so wird es vor einem Trümmerhaufen
stehen. Es wird auf das Elendste verarmt sein, und die