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Ich wurde am 20. November 1934 in Merseburg geboren. Mein Vater, Gustav Beutler, hatte zwei Tabakwarengeschäfte. Da mein Vater als junger Mann politisch und sportlich sehr aktiv war, hatte er durch Fahrten mit dem sozialdemokratischen Sportverein seine erste Frau, die mich zur Welt gebracht hat, kennengelernt. Diese Frau Annemarie, geborene Riesenfeld, ist dann mit meinem Vater nach Merseburg gezogen. Aus dieser Zeit habe ich eigentlich sehr wenige Erinnerungen, die mir bewußt geblieben sind. Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, hat sehr lange und sehr häufig bei uns gelebt. Er soll mich sehr verwöhnt haben, wie das Großeltern machen. Es hat dadurch auch viel Krach zwischen meinen Eltern gegeben. Es kommt immer wieder auf einen Punkt, diesen Großvater haben wir zurücklassen müssen, als wir aus Deutschland ausgewiesen worden sind. Der Großvater ist der letzte Lebende meiner kleinen Familie, der zurückgeblieben ist, denn die Eltern meines Vaters waren bereits verstorben. Insofern gehören wir nicht zu den jüdischen Familien, die sound-so-viel Angehörige durch das faschistische Regime verloren haben. Aber den Großvater such ich ab und an, übers Internationale Rote Kreuz, über manche Archive, bisher ohne Information. Die gravierendste Erinnerung ist eigentlich die Zeit, wo mein Vater abgeholt worden ist. Er ist auf der Straße verhaftet worden, am Morgen nach der Pogromnacht hier in Berlin ist mein Vater nach Buchenwald gekommen. Er ist nach vier, fünf Wochen entlassen worden, mit der Aufforderung, Deutschland zu verlassen. Er wußte sicherlich auch um die Gefahren. Nachdem er also dieser Aufforderung nicht Folge geleistet hatte, ist er aus der Wohnung geholt worden. Das war am frühen Morgen, davon bin ich wach geworden. Und ein paar Wochen später ist das Gleiche wieder erfolgt. Meine Mutter und ich sind dann auch geweckt worden mit der Maßgabe: „Weg!“ Wie wir von Merseburg dann konkret weggekommen sind, ob wir in ein Auto gebracht oder in einen Zug gesetzt worden sind, weiß ich nicht. Auf der Reise Die nächste Erinnerung ist das Schiff. Wir sind auf der „Usaramo“ von der deutschen Ostafrika Linie gefahren, und wir sind laut Ausreisestempel im Paß meines Vaters am 25. April 1939 aus Hamburg ausgereist. Meine Mutter und ich sind nach Hamburg gebracht worden, und dort im Hafen oder auf dem Schiff ist die „Familienzusammenführung“ erfolgt. Dann begann diese sehr lange Fahrt, und ich weiß nicht viel über diese Fahrt, das ist ja auch altersbedingt, und vieles wollte man einfach vergessen. Aber eines, was mich Jahrzehnte verfolgt hat, ist ein Alptraum: daß ich immer wieder von der Reeling des Schiffs gestoßen worden bin oder gefallen bin, in die wartenden geöffneten Mäuler von sehr großen Fischen. Das war ja kein Vergnügungsschiff. Wir waren dort viele Menschen an Bord, es waren auch Kinder dabei. Das war ja eine erzwungene Reise, und hinterher wurde gesagt, das Schiff war von der 28 Gestapo gechartert, da bin ich auch noch dabei, das zu recherchieren. Das war ein furchtbarer Alptraum, wenn ich Probleme hatte und glaubte, es geht die Welt zu Ende, dann nachts diese Vision, die hat mich unsagbar lange verfolgt. Shanghai Wir sind am 28. Juni 1939 in Shanghai angekommen. Die erste Erinnerung an das Leben in Shanghai war die Unterbringung in einem Heim, so große Säle, wo viele, viele Menschen in Doppelstockbetten geschlafen haben. Das Einzige, woran ich mich unangenehm erinnere und weshalb ich auch heute noch immer wieder daran denke und Horror habe, wenn ich auf fremde Toiletten gehen muß: es gab ja diese Toilettenbecken da, diese Kübel, auf die man sich setzen mußte. Da war ein Verschlag, und da wurde der so reingeschoben und dann war ein Brett, und dann konnte man so. Ich war schon im Alter, wo man vieles als Kind auch alleine macht. Am frühen Morgen bin ich auf Toilette gegangen, hab ich mich dort also draufgestellt, der war nicht richtig befestigt, und da bin ich mit diesem Kübel, der gefüllt war, umgekippt, und ich stand in diesem ganzen Dreck, und das war auch was ganz, ganz Schlimmes für mich als kleines Kind. Ich hab gebrüllt und alle wach gemacht, und dann hab ich noch Ärger bekommen. Seit der Zeit guck ich mir jede Toilette immer sehr genau an. Ich kann mich nur noch erinnern, daß sich meine Eltern entzweit hatten. Wie sich das im Detail dargestellt hat, ob sie sich oft gestritten haben, ich kann es nicht sagen. Ich weiß nur, daß ich nachher mit meinem Vater zusammengelebt habe. Auf alle Fälle war ich noch sehr klein. Da nun mein Vater für mich verantwortlich war, hat er dafür gesorgt, daß ich versorgt und betreut werde. Er konnte das nicht machen, weil er irgendwelchen Beschäftigungen nachgegangen ist, den Lebensunterhalt sichern. Und da war ich viel bei fremden Menschen, die hatten eine Art privaten Kindergarten. Das war in Hongkew, in einem chinesischen Haus mit so einem typischen chinesischen Dachgarten, und wir Kinder haben dort, wenn das Wetter das erlaubt hat, immer auf dem Dachgarten gespielt und dort auch Mittagsruhe gehalten. Ich weiß nicht, was wir gegessen haben, ich weiß nur, wenn man dort nicht aufgegessen hat, dann gab’s den Rest zur nächsten Mahlzeit. Und da gab’s Essen, das ich eben nicht mochte, beispielsweise Spinat, und ich hab das dann immer wieder vorgesetzt bekommen, es gab nichts anderes. Das war für mich auch ein Grund, daß ich mich dort nicht wohlgefühlt habe, so daß ich mir bei der Mittagsruhe manchmal eine Traumwelt zu entwickeln versucht habe. Ich habe mir Vorstellungen gemacht, als wenn vom blauen, heißen Shanghaier Himmel ein Engel kommt, mit mir spricht, mich tröstet, lieb zu mir ist. Dann geht’s eigentlich schon in die Chusan Road. Da sind immer mein Vater und ich nur, meine Mutter war dort schon gar nicht mehr. Ich war an der Grenze zum Schulbeginn. Da war dieses unangenehme Erlebnis, was mich doch sehr, sehr beeinflußt hat in meinem späteren Verhalten, die Begegnung