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mit meiner Mutter, die für mich später nicht mehr als Mutter existierte. Als Kind war ich eben viel mir selber überlassen, bin ich viel unterwegs gewesen in der Stadt, alles angeguckt. Als ich eines Tages unterwegs war in der Nähe der Garden Bridge, stand ich vor meiner Mutter. Ich habe sie ansprechen wollen, und sie hat nicht reagiert und dann hab ich es noch einmal versucht. Sie sah sehr gut gekleidet aus, und ich weiß nicht, ob ich ihr zu schmutzig ausgesehen hab oder warum. Jedenfalls hat sie überhaupt nicht reagiert und mich praktisch, wie man umgangssprachlich sagt, links liegen lassen, ist also weitergegangen. Das hat mich sehr betroffen, und von da an hab ich eigentlich gemerkt, daß ich ohne Mutter aufwachse und habe mich von dieser Frau, die mich zur Welt gebracht hat, innerlich vollkommen distanziert, war richtig böse auf diese Frau, die mich keines Blickes gewürdigt hatte. Das ist also die Episode mit meiner Mutter, die für mich als Frau keine Mutter ist, und das ist auch nach wie vor meine Auffassung von dieser Frau. Unter anderem gehört zu dieser Scheidung, daß diese Umstellung vom gutbürgerlichen Leben in Deutschland zu dem Leben in Heimen in Shanghai von meiner Mutter schwer zu ertragen war. Sie war offensichtlich ein sehr lebenslustiger und sehr lebensbejahender Mensch gewesen und hat vieles von den Schönheiten des Lebens dann vermißt. Die letzten Attribute für die Schönheit einer Frau, Besitz, Schmuck, Kleidung und so was, mein Vater soll alles verkauft haben, nicht, um meine Mutter zu ärgern, sondern um unser Leben dort in irgendeiner Form zu sichern, Unterkunft und Miete. Und das soll unter anderem auch mit entscheidend gewesen sein, daß mein Vater ohne Rücksicht auf die Gefühle meiner Mutter ihr auch Leid zugefügt hatte. Aus der Scheidungsurkunde geht hervor, daß meine Mutter in Shanghai sich sehr frühzeitig einen andern Lebenspartner gesucht hat. Das ist auch die Begründung für die Scheidung und für das Sorgerecht, das meinem Vater zugesprochen worden ist. Als ich erwachsen war, verheiratet, Kinder mit meiner Frau hatte, habe ich im nachhinein gemerkt, welche Rolle doch eine Mutter im Leben von Kindern spielt, und daß mir das alles verlorengegangen ist. Ich will nochmal etwas zu dem Leben von Vater und Sohn sagen in dieser Chusan Road 6. Wir wohnten Parterre, ganz hinten, wenn man von der Chusan Road ins Haus reinging. Mein Vater hatte, zwei mal zwei Meter abgetrennt, einen Teil, wo er seinen Tabak verkauft hat. Wir haben unmittelbar an der hintersten Grenze des Hauses gelebt, an einem schmalen Gang, wo die Kübel immer frühmorgens abgeholt wurden. Die sind nicht durch die Häuser gegangen, sondern die hatten Extrazugänge, die Kübelmänner für die Toilettenkübel. Neben unserem Zimmer war das Kübelhäuschen, wo wir auch unsere „Toilette“ hatten, kein water closet, bis 1947 bin ich nur auf Kübel gegangen. In diesem Zimmerchen haben wir gewohnt, spartanisch eingerichtet. Möbel, den Begriff kannte ich sowieso nicht, weiß nur, daß wir aus Bambusgeflecht eine Liege hatten, da durfte ich drauf schlafen. Mein Vater hatte gar nichts Richtiges. Das war eine Kiste oder irgendwas Merkwürdiges. Dann war eine Stange, da hingen so ein paar Sachen dran, das Wenige, was man noch hatte. Dann hatten wir ein Gestell, da war ein elektrischer Kocher, aber das war nur eine Spirale, also offen, da konnte man sich etwas erwärmen. Wie lange wir diesen Kocher hatten, weiß ich nicht, was dort gekocht worden ist, weiß ich auch nicht. Sonst war in dem Zimmer eigentlich nichts. Da war eine Kiste, das war für mich die Plattform für meine Scheinwelt, wenn ich Supermann gespielt habe. Ich verstehe es heute immer noch nicht —- und es ist schade, daß mein Vater nicht mehr lebt —, wie wir dort gelebt haben. Das fängt an von der Wäsche her, vom Wäsche waschen, vom Kochen. Das sind alles Begriffe, die erst im nachhinein gekommen sind. Ich weiß nur, daß nichts da war. Das waren die Ärmsten der Armen, die haben nicht gekocht, der Vater hat für den Sohn nichts gemacht. Und das nicht nur mal für eine Woche oder für einen Monat, das ging praktisch über Jahre so. Straßenmarkt nach dem Krieg. Foto: Sammlung Herta Shriner 29