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Ich bin als Kind viel in Shanghai durch die Straßen gelaufen, und das ist etwas, was ich als eine prägende Entwicklung einschätze. Ich war sehr viel auf mich alleine angewiesen, versuchte mich alleine durchzuschlagen und habe vieles getan, was man aus heutiger Sicht kaum normalerweise machen würde, aber die Umstände zwangen einfach dazu. Das fing damit an, daß ich unter anderem auch richtig geklaut habe, aus Hunger. Also nicht, daß ich irgendwie Wertgegenstände mir genommen habe, sondern es gab ja die vielen Straßenhändler und Märkte, zum Beispiel diese süßen Kartoffeln, die in großen, am Straßenrand stehenden eisernen Öfen gebacken werden. Oder mal ein Stück Obst am Stand weggenommen, weil man Appetit und Hunger hatte. Das war einfach so, nicht aus Spaß, sondern weil das Bedürfnis dazu da war oder das Verlangen nach etwas anderem zu essen. Wir haben eine zeitlang regelmäßig einmal am Tag aus dem Heim Essen geholt, das heißt, ich mußte das oft holen. Da gab es meistens einen Hirsebrei, also einen Eintopf, der in dieser Gemeinschaftsküche angefertigt wurde. Und dieses monotone, nicht abwechslungsreiche Essen und die Tatsache, daß man mit offenen Augen als Kind gesehen hat, was andere Menschen angeboten bekommen und man das nicht hatte, hat einfach dazu verführt, daß man sich doch auch selbst versorgt hat und abwechslungsreicher. Im Ghetto Hongkew Das war so weit, daß wir manchmal kleine Banden, kleine Gangs waren, viel Unfug getrieben haben, Leute geärgert haben, wie Kinder eben Erwachsene ärgern. Und dazu gehört auch wieder eine Episode. Ich war relativ klein und schmächtig, und wenn wir irgendwas angestellt hatten und schnell Reißaus nehmen mußten, war ich meistens der letzte. In den „Lanes“, so ganz schmal, konnte nur einer hinter dem anderen laufen. Eines Tages waren wir auch in der Chusan Road, in einer Lane, hatten dort irgendwas angestellt, wollten aus dieser Lane raus, und plötzlich hat jemand einen Hund hinter uns hergejagt. Wir sind gelaufen, gelaufen, und dieser Hund hat mich angefallen, ist mir in den Rücken gesprungen und hat sich im Schulterblatt eingebissen. Das war eine kräftige Bißwunde. Es hat sehr stark geblutet. Da waren Erwachsene, die haben mich sofort zu einer Krankenstation genommen. Dort wurde die erste medizinische Versorgung unternommen, und die ist deshalb für mich unvergeßlich, weil die Wunde ausgebrannt wurde. Man hat irgendwelches metallisches Gerät über einer Flamme stark erhitzt und in die Wunde gehalten. Und ich bin 30 belehrt worden, ich hab das nur zum Teil verstanden, daß ich gegen Tollwut geimpft werden muß. Das ist ein Straßenhund, der Besitzer muß gefunden werden, und der Hund muß untersucht werden, ob der tollwütig ist. Je nach dem muß ich mich einer weiteren Behandlung unterziehen: wenn der Hund nicht tollwütig ist, bekomm ich zwölf Spritzen, ansonsten 24. Der Hund, der mit Hilfe meiner Kumpels, die ihn genau kannten, gefangen wurde, war nicht tollwütig, mein Glück. Mein Vater wurde durch die Behörden verpflichtet, daß ich mich dieser Spritzkur unterziehen muß. So mußte ich vormittags, ich sag mal jetzt „in die Stadt“, nach Shanghai, also jenseits von der Garden Bridge, raus aus dem Ghetto in ein Spezialkrankenhaus. Das war offensichtlich eine Klinik, wo nur Leute, die von Hunden gebissen worden waren oder im Zusammenhang mit Tollwut behandelt wurden. Ich hab da ganz schlimme Bißwunden gesehen. Ich mußte mich auf den Rücken legen und bekam eine Spritze, ich hab immer gesagt, das ist eine Milchspritze. Das war eine trübe Flüssigkeit, und dann wurde die Spritze, die war sehr lang, ein klassischer Glaskolben, in der Nähe vom Bauchnabel in den Bauch eingestochen. Hat sehr weh getan und hat immer schöne Beulen gegeben, große, viel Flüssigkeit, ehe die sich da im Körper verteilt. Aber ich hab jetzt noch die Narbe auf meinem linken Schulterblatt, immer noch, das war wirklich ein schöner Biß, aber ich hab keine Nachwirkungen negativer Art gehabt. Die Behandlung ist abgeschlossen worden. Ja, das gehörte also mit zu den Episoden „Rumrennen als Kind“, „Unfug treiben“, „andere Leute ärgern“, gehört aber gleich mit zu der nächsten Episode meines Lebens. Weil ich so viel unterwegs war, alleine war und nichts Vernünftiges getan habe, hat mein Vater ab und zu doch die Zügel sehr straff angezogen. Also rumtreiben außerhalb der Schulzeit, das hat mein Vater gesagt, das geht nicht mehr. Weil wir so viel Unfug getrieben haben, und es kannte einer den andern, und BeutlerJunge war auch bekannt. Er hat im Grunde genommen tagtäglich mehrmals Klagen über seinen Sohn gehört. Und das hat ihn sicherlich sehr belastet. Er hat nach Möglichkeiten gesucht, mich von der Straße wegzubekommen, und eine der Möglichkeiten war diese Talmudschule, ich weiß nicht, ob das der richtige Begriff für diese Einrichtung war. Ward Road, die Synagoge, und dort war nachmittags diese Einrichtung. Wir waren einige Jungs, meiner Meinung weniger als zehn. Da haben wir regelmäßig Unterricht gehabt, hebräische Schriftzeichen erstmal erlernen und die Bibel, Thora lesen, also Gebetbücher, das hatten wir als Unterrichtsmaterial. Mit diesem Wissen, das ab einem bestimmten Punkt eine bestimmte Qualität hatte, habe ich unter anderem auch die Sabbatfeiern mitgetragen. Wir haben in unserer Kadoorie School, Shanghai Jewish Youth School, regelmäßig unsere Sabbatfeier gehabt. Ich weiß noch ganz bewußt, daß ich nach dem Krieg so gut in Hebräisch war, daß ich diese Sabbatfeiern als Vorbeter mitmachen konnte. Das hat mir Spaß gemacht, ich habe gerne dort gestanden und die Gebete mitgesungen vor den anderen Kindern. Die Kadoorie School, bis zu einem gewissen Grad schwärme ich eigentlich noch heute für diese Schule. Die Anlage der Schule war relativ neu und modern. Ein Hufeisen, dieser zentrale Raum, eine Art Aula, wo auch die Sabbatfeiern durchgeführt wurden, eine riesengroße Wiese, Grünanlage. Und man hatte wirklich viel Licht und den Rasen, wo man rumtoben konnte. Mir hat Schule immer Spaß gemacht, die vielen Kinder um einen herum, das war für mich schön, weg von diesem traurigen „Zuhause“, in Anführungsstrichen.