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Europäer, zum größten Teil Wiener und deutsche Hitlerflüchtlinge. Wir waren jetzt nicht mehr allein; in einem Land wie China war das ein großer Vorteil. Einige Ärzte und Rechtsanwälte waren bald unsere Freunde. Auch mit den tschechischen Ärzten kamen wir wieder zusammen und durch diese wieder mit weiteren Emigrantengruppen. Fast alle hatten schon Posten und Arbeit und eine bescheidene Existenz. Die Tatsache, daß in dieser Pension fast nur Hitlerflüchtlinge wohnten, benützte ein junger Deutscher zu einer dummen Provokation. Eines Abends erschien dieser Jüngling, der ebenfalls in der Pension wohnte, in einer funkelnagelneuen SA-Uniform mit einem riesigen Hakenkreuz im Speisesaal. Einen Augenblick war alles sprachlos über diese taktlose Frechheit. Dann aber erhob sich ein Sturm der Entrüstung unter den übrigen Gästen, und nur dem Eingreifen einiger besonnener Männer gelang es, den dummen Jungen vor der verdienten Tracht Prügel zu bewahren. Die Pensionsinhaberin warf ihn noch in derselben Nacht hinaus. Mit einem Wiener Arzt, der in einem medizinischen Laboratorium bereits Arbeit gefunden hatte, freundeten wir uns besonders an. Mit ihm durchstreifte ich später, so oft er frei war, die Chinesenviertel, besonders die Tempel. Die Pension lag im sogenannten Settlement, dem internationalen, nicht-chinesischen Teil der Stadt. Mit meiner Frau kam ich auch oft durch die innere Stadt. Ein Spaziergang durch die Hauptstraßen, z.B. durch die Nanking Road, war immer der Mühe wert. Zu jener Zeit mußte man nur Acht geben, daß einem nicht von irgendeinem Verbrecher der Hut vom Kopf gerissen wurde. Vielstöckige, meist neue Hochbauten säumten diese Straßen. Moderne Geschäftslokale, in denen in Schaufenstern alles, was gut und teuer war, zu sehen war. Europäisch anmutende Restaurants, moderne Hotels, Bankpaläste und riesige Bürohäuser, in denen die internationalen Firmen ihren Sitz hatten, reihten sich aneinander. Ein beängstigend dichter Menschenstrom, teils europäisch, teils national gekleidet, schob sich dahin. Es war oft kaum zum Durchkommen. Auf der Fahrbahn alle erdenklichen Fahrzeuge: von der Rikscha bis zum Cadillac und vom Schiebekarren bis zum schweren Lastzug konnte man alles sehen. Und ein betäubender Lärm drang aus dieser Masse. Die gemauerten, mit Schießscharten versehenen Schilderhäuschen an jeder Straßenecke, die die Polizisten vor den alltäglichen Überfällen schützen sollten, erinnerten daran, daß Shanghai damals von Verbrechern wimmelte. Kein Tag verging, ohne daß die Zeitungen von neuen Morden berichteten. So gehörte z.B. das Ausplündern der Passagiere in den städtischen Autobussen so zum Alltäglichen, daß darüber nicht mehr berichtet wurde. Shanghai war eben eine Großstadt mit allen Fehlern und Vorzügen und vor allem mit ihrer Verbrecherwelt. Gar nicht weit entfernt von diesem inneren Teil der Stadt konnte man sich in Urgroßvaters Zeit zurückversetzt glauben. Da fanden wir z.B. im Hof eines alten Gebäudes unter freiem Himmel eine unglaublich primitive Eisengießerei. Der zerkleinerte Schrott wurde auf einer circa vier Quadratmeter großen, von einer niedrigen Mauer umgebenen Fläche mit Holzkohle zum Schmelzen gebracht. Die Luftzufuhr besorgten an drei Seiten — an der vierten Seite war der Abstich - typische chinesische Gebläse! Das waren längliche Holzkistchen, in denen ein hölzerner Kolben von einem Kuli hin und her bewegt wurde. Es blieb mir ein Rätsel, wie man noch heutzutage mit einer so primitiven Vorrichtung arbeiten kann. Durch unsere neuen Bekannten kam ich mit dem Medical Board, der Ärztekammer, in Verbindung. Ein bereits zu Beginn r. FRIEDMANN M.0. GENERAL PRACTITIONER Straße in „Little Vienna“ mit Praxen europäischer Ärzte Foto: UNO, Sammlung Paul Rosdy der Zwanzigerjahre eingewanderter Wiener Arzt war der Präsident. Er vermittelte und vergab die Posten für die in Shanghai lebenden Ärzte. Die wirkliche Arbeit allerdings machte eine hilfsbereite junge Ärztin aus Worms. Sie nahm sich gerne und hilfsbereit meiner an. In Shanghai war für europäische Ärzte die Praxis frei. Seit Jahren praktizierten einige deutsche Ärzte im internationalen Viertel. Sie hatten alle eine gut gehende Praxis, waren aber auch recht tüchtige Fachleute. (...) [Ernst Ritter tritt eine Stellung in einem Missionsspital polnischer Lazaristen in Wenchow an] Wie gefährlich es war, allein außerhalb Shanghais einen Posten anzunehmen, erfuhren wir bald danach. Der mir noch aus der Heimat bekannte Dr. Adler, ein 40jähriger gesunder Mann, hatte eine Stellung in der Nähe Shanghais angenommen. Er sollte dort in einem kleinen Spital eine Hals-NasenAbteilung errichten und nahm zu diesem Zweck sein Spezialinstrumentarium mit. Knappe vier Wochen nachdem er abgereist war, kam von diesem Spital die lakonische Nachricht, Dr. Adler habe sich erhängt ... Der lebenslustige Arzt, der für seine Frau und ein zweijähriges Kind zu sorgen hatte, hatte nie Selbstmordabsichten geäußert und hatte auch keinen Grund dazu. Es war uns allen klar, daß er ermordet worden war, um sich seiner Instrumente zu bemächtigen. Das war für alle eine traurige Warnung. (...) Am zweiten Tag nach meiner Ankunft begann meine wirkliche Arbeit. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten alle operativen Fälle zu Dr. Stedeford geschickt werden müssen. Das änderte sich jetzt mit einem Schlag. Gleich an einem der nächsten Tage brachten sie uns einen Fischer, der von den Japanern schwer verletzt worden war. Eine Kugel hatte ihm den Arm schwer verletzt; der Vorderarm war bereits brandig, die Amputation daher dringend. Es war mein erster größerer Eingriff, und die Schwestern beobachteten mich mit Argusaugen; sie waren aber anscheinend zufrieden. Der Mann war von den Japanern ertappt worden, als er vor der Küste japanische Minen zur Explosion bringen wollte. Das war von den Japanern strengstens verboten. Da aber die chinesischen Behörden für jede unschädlich ge35