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Diese Geringschätzung wirkt sich besonders dann aus, wenn in einer Familie mehr Mädchen als Knaben ankommen. Ist das erste Kind ein Mädchen, dann gilt es zwar so viel wie ein Knabe, wenn aber mehrere Mädchen kommen, werden sie nur mehr als Last empfunden. Das erste Kind der Familie Wong war ein Mädchen. Dieses Kind galt als vollwertig. Dann kamen drei Buben, dann aber wieder ein Mädchen. Als wir in der Villa wohnten, war dieses Kind ungefähr zwei Jahre alt. Das sechste Kind war wieder ein Knabe. Meine Frau war oft Zeuge, wie man dieses zweijährige Mädchen den Buben gegenüber zurücksetzte, besser gesagt, verwahrlosen ließ. Stundenlang weinte und jammerte oft das arme Wesen in einer Ecke des Hofes, ohne daß sich jemand darum kümmerte. Man konnte aus dem ganzen lieblosen Gehaben der Kinderfrau erkennen, wie zuwider ihr die Kleine war. Den Buben aber galt alle Liebe und Fürsorge. Eines Tages riß meiner Frau die Geduld und sie sagte in ziemlich erregtem Ton: Am liebsten möchte ich euch das Kind wegnehmen, wenn ihr es nicht wollt. Diesen sicher nicht ernst gemeinten Ausspruch nahm aber die Frau für bare Münze, und wir waren nicht wenig erstaunt, als am nächsten Sonntagvormittag Dr. Wong mit seiner Frau und der Kinderfrau, die das Kind am Arm hatte, bei uns anklopfte. Wir wußten vorerst nicht, was das zu bedeuten hatte und glaubten, Dr. Wong wolle uns endlich seine Frau vorstellen. Aber bald wurden wir eines besseren belehrt: Wong und Gattin wollten uns das Kind schenken! Es kostete uns einige Mühe, den guten Leuten beizubringen, daß die Worte meiner Frau nicht so ernst gemeint waren und daß aus hundert Gründen dieses Geschenk für uns unannehmbar sei! Die Geringschätzung eines weiblichen Kindes geht oft so weit, daß das Mädchen nicht einmal einen eigenen Namen hat. Bis zur Verehelichung heißt so ein Kind z.B. die Tochter des Wu, oder wie der Vater eben hieß, nach ihrer Heirat heißt sie die Frau des Tschang oder ähnlich, und nachdem sie den ersten Knaben zur Welt gebracht hat, heißt sie die Mutter des Li oder so ähnlich. Werden kleine Mädchen verschenkt, so werden Ehefrauen gegebenenfalls verkauft. Da kam eines Tages ein Mann aus einer 200 km entfernten Ortschaft zu uns in das Spital; er litt an einer weit fortgeschrittenen Sehnervenatrophie, die zur Erblindung führt und gegen die nichts mehr zu machen war. So leid mir der Mann tat, ich mußte ihm durch die Schwester beibringen lassen, daß wir ihn als Unheilbaren nicht aufnehmen konnten, darüber regte sich der arme Teufel furchtbar auf und begann herumzuschreien, nun habe er seine Frau, eine gute Arbeiterin, für 50 Chinadollar verkauft, um mit dem Betrag die Reise und den Spitalaufenthalt zu bezahlen, und jetzt sei alles vergebens gewesen. Man möge aber aus diesem Erlebnis nicht schließen, daß die Ehen im chinesischen Volk schlechter seien als bei uns. Ich habe nie etwas von Scheidungen gehört, aber ich habe in der Stadt mehrere Denkmäler gesehen, die Ehemänner ihren verstorbenen Gattinnen aus Dankbarkeit und Verehrung hatten errichten lassen. Es waren meist kunstvoll gearbeitete, einem Torbogen gleichende Bauwerke, die vor dem Haus der Verstorbenen standen und auf denen alle Tugenden und guten Taten der Toten verzeichnet waren. Wenn man bedenkt, daß der überwiegende Teil aller Ehen von den Eltern der jungen Leute arrangiert werden und daß sich Braut und Bräutigam oft gar nicht kennen und sich bei der Hochzeit zum ersten Mal sehen, ist es ein Wunder, daß sich diese Ehen halten. Es ist mir z.B. aufgefallen, daß ich nie junge Paare allein spazieren gehen sah. Der Weg zu unserer Wohnung wäre für Liebespaare wie geschaffen gewesen, es war eine schattige, dunkle Allee. Heute ist das, wie so vieles, wohl anders. Ernst Ritter, geb. 1888 in Krakau, studierte ab 1907 Medizin in Wien, promovierte 1913 und war 1914-1918 als Frontarzt im Ersten Weltkrieg eingesetzt. Danach arbeitete er als Arzt in Hollabrunn. Heirat mit der Engländerin Gladys Gibbons. 1930 war Ritter als Sozialdemokrat geschäftsführender Gemeinderat, nach den Februarkämpfen 1934 von Funktionären des Ständestaats drangsaliert, am 13. März 1938 als „Kommunist“ verhaftet, nach Protesten aus der Bevölkerung wieder entlassen, doch weiterhin von den Nazis bedroht. Nach dem Zwangsverkauf des Wohnhauses im September 1938 Übersiedlung nach Wien. Im April 1939 Flucht nach Shanghai, dort Arzt in einem Flüchtlingsspital, dann in einem Missionsspital in Wenchow (Provinz Tschekiang). Im Herbst 1940 gelangte Ritter über Japan nach Venezuela, wo er als Arzt auf einer abgelegenen Gummiplantage arbeitete und Forschungen zur Bekämpfung von Tropenkrankheiten betrieb. Ritter wurde venezuelanischer Staatsbürger und amtierte als Präsident des Centro Austriaco in Caracas. 1949 eröffnete er eine Privatpraxis, bevor er im Juni 1959 nach Wien zurückkehrte, wo er noch als Arzt für die Gebietskrankenkasse arbeitete. Sein Sterbedatum ist unbekannt. — Aus dem Typoskript „So hab ich es erlebt“, aufbewahrt im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, Wien, hat Marcus G. Patka diese Auswahl zusammengestellt. Chinesische Kinder in aus Rot-Kreuz-Säcken angefertigten Kleidern Foto: Sammlung Walter Frank 37