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ner Klasse ein einziges Mal so bestrafen, das schlechte Gewissen, an diesen vorsintflutlichen Methoden mitgewirkt zu haben, hat mich niemals verlassen. Angenehm war, daß die Schule nahe meiner Wohnung lag, man konnte ganz gut zu Fuß hingehen. Allerdings sagte es meiner Faulheit zu, daß man immer eine Rikscha finden konnte. Es gab Leute, die niemals eine Rikscha benutzen wollten — wie konnte sich ein Mensch von einem anderen Menschen ziehen lassen! Ich fand, da es Rikschafahrer gab, müßten sie auch die Möglichkeit haben, sich ihr Leben zu verdienen. Eines Tages aber, als wir zu einer aufgerissenen Wegstrecke kamen, die neu asphaltiert werden sollte, fand auch ich es unmöglich, in der Rikscha weiterzufahren. Der Rikschafahrer trug nur Strohsandalen, ich konnte dem Mann nicht zumuten, über die spitzen Steine zu laufen! Ich stieg also aus, zahlte, was für den ganzen Weg ausgemacht war, und ging zu Fuß weiter. Der Rikschamann muß mich für irrsinnig gehalten haben; kaum war ich ausgestiegen, heuerte ihn ein anderer Fahrgast an. Nach Ablauf der sechsmonatigen Probezeit wurde mir von der jüdischen Schule bedeutet, daß ich nicht mehr dem Lehrkörper angehören solle. Ich machte einen richtigen Luftsprung vor Freude — zu Hause natürlich. Aber eines verlangte ich: Daß man mir erkläre, warum ich gefeuert wurde. Also kam es eines Nachmittags zu einer unerquicklichen Zusammenkunft in Rabbi Browns Büro. Es bedurfte einigen Nachdrucks, bis die Antwort kam, daß ich nicht Hebräisch unterrichten Konnte. Dazu war ich nicht angestellt, aber von Rabbi Brown gegen meinen Willen gezwungen worden! Ich machte meinem Unmut Luft, daß in Shanghai jüdische Kinder, meist aus Rußland stammend, nach englischen Lehrplänen unterrichtet würden. Daraufhin ging ich und schlug die Türe mit einem sarkastisch „Goodbye, gentlemen“ zu. Shanghai war wie ein buntes Kaleidoskop, bei jeder Drehung und Wendung sah man etwas anderes, neues. In meinem eigenen Leben renkte sich alles ein - ich hatte einen Job, eine Aufgabe vor mir. Li Ximou, ein chinesischer Bekannter, noch aus Wien, verhalf mir zu einer Stellung im „International Institute of Intellectual Cooperation“. Ich erfuhr, daß dieses Institut mit einem französischen Völkerbund-Institut gleichen Namens zusammenarbeitete. Ich sollte anhand der Institutsbibliothek eine Bibliographie über Pädagogik zusammenstellen. Das Ganze stellte sich als eine Spiegelfechterei heraus — ich werkte fleißig, suchte alles zusammen, gab das Konvolut meinem Chef, der sagte „Danke schön“ und steckte das Dokument in die unterste Schublade. Diese intellektuelle Kooperation war nur eine Sinekure. Ich stellte mich darauf ein. Besonders als ich im Herbst 1934 Agnes Smedley kennenlernte. Eines Tages kam sie zu mir — hochgewachsen, einen breitrandigen Hut tief ins Gesicht gezogen. Der Name war mir bekannt, ihren autobiographischen Roman Daughter of Earth, der im Deutschen Eine Frau allein hieß, hatte ich gelesen. Sie war ein Bündel Energie, und wen sie einmal in ihren Kreis gezogen hatte, der geriet in einen Strudel. Ich wußte, daß sie als Korrespondentin der „Frankfurter Zeitung“ nach China gekommen war, daß sie viel mit der indischen Freiheitsbewegung zu tun gehabt hatte. Nun, da Agnes Smedley in China war, bemühte sie sich um die Freiheitsbestrebungen des chinesischen Volkes. Wahrscheinlich war es Rewi Alley, der ihr von mir erzählt hatte, daß da ein einsatzbereiter Rekrut sei. Bald nachdem mich Agnes in Augenschein genommen hatte, kam auch ihr erster Auftrag: Sie brachte mir einen riesigen Stoß 40 Broschüren, die ich nach einer von ihr gefertigten Liste versenden sollte. Es handelte sich um Wirtschaftsstatistiken, von der „Arbeiterkorrespondenz“ veröffentlicht, offensichtlich ein Deckname der Kommunistischen Partei Chinas. Da ich aus Wien einen Stempelkasten mitgebracht hatte, ein Kinderspielzeug eigentlich, setzte ich mir aus den beweglichen Gummilettern eine glaubhafte Absenderadresse für die Kuverts zusammen. Der Grund, warum Agnes und ich eingeschaltet wurden, war einfach der, daß unter den obwaltenden Umständen Ausländer mehr Spielraum hatten als Chinesen. Durch Zufall und Neigung glitt ich so auf unmerkliche Weise in ein Doppelleben hinein - in den dreißiger Jahren waren fortschrittliche Ideen in China tabu. Ausländer stimmten natürlich darin überein, daß die Ideen der chinesischen Kommunisten Anathema seien. Bevor ich Agnes Smedley kennenlernte, hatte ich die Bekanntschaft einer deutschen Kommunistin, Irene Weitemeyer, gemacht - sie führte einen Buchladen, in dem man deutsche, englische und russische fortschrittliche Bücher erstehen konnte, Willi Bredel zum Beispiel. Irene leitete meine Gedankengänge auch etwas um, indem sie mir erklärte, daß fortschrittlich gesinnte Frauen eben auch Frauen seien und sich mit Lippenstift und anderen Kosmetika schön machen lönnten, ich hatte hierin eher spartanische Vorstellungen. Sicher bestanden unter dieser Handvoll Personen Beziehungen, sie kannten sich, machten aber kein Aufheben davon, das war so Sitte. Das Prinzip war ganz einfach „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“ — wenn jemand gefaßt wurde, konnte er/sie nicht zu viele andere Leute bloßstellen. Aus jener Zeit stammt auch mein Widerstreben, Tagebuch zu führen, aber selbst Adreß- und Notizbücher konnten Leute in Verdacht bringen. Irene Weitemeyer war meines Wissens nicht lange in Shanghai, was aus ihr wurde, weiß niemand ... Durch all diese Kontakte hatte ich mein „doppelbödiges““ Umfeld: Nach außen hin verkehrte ich mit Leuten wie meinen Wirtsleuten und deren Tochter Relly, auch T.C. Dai und Li Ximou gehörten dazu, mein Job im Internationalen Institut; andererseits brauchte ja niemand zu wissen, wann ich zu Rewi Alleys Diskussionsgruppe oder in Agnes Smedleys Wohnung ging und was ich sonst noch trieb. Agnes Smedley wohnte in den Burns Apartments auf der damaligen Avenue Joffre. Dieser Komplex hatte mehrere Eingänge, vorn und hinten. Da Agnes mit Recht annehmen konnte, daß die Kuomintang sie beobachten ließ (sie behauptete, ihrer Wohnung gegenüber sei eine Geheimstation mit einer Kamera), mußte man sehr bewußt vorgehen, wenn man sie aufsuchte — das heißt, man mußte sich genau merken, welchen Eingang man benutzt hatte, und auf keinen Fall bei derselben Türe herauskommen! Agnes Smedley erklärte mir plötzlich eines Tages, ich sollte mir eine eigene Bleibe suchen, in einem Haus ohne Lift (Liftboys standen oft im Dienst der Kuomintang). Im Sommer 1935 fand ich ein Ein-ZimmerApartment im 3. Stock, ganz in der Nähe der griechisch-orthodoxen Kirche in der französischen Konzession. Meinen bisherigen Wirtsleuten erklärte ich, daß die neue Wohnung näher an meinem Arbeitsplatz liege und zog um. Natürlich mußte ich mich einrichten, aber das war auch nicht so schlimm — damals kriegte man in Shanghai billige Möbel, Korbsessel, im Zimmer war ein riesiger Schrank eingebaut, ich wurde also selbständig! Anfang des Jahres 1935 schickte mich Agnes Smedley mit einem Brief zu Madame Sun Yatsen, mit eigenem Namen Soong Ching Ling. Dr. Sun Yatsen war mir schon in Europa ein