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Begriff gewesen, Karl-August Wittfogel hatte eine Biographie über ihn und seinen Kampf für ein modernes China geschrieben. Dr. Sun war 1925 gestorben, seine Witwe war auf jede Weise bemüht, seine Sache weiterzuführen. Sie war eine der berühmten drei Soong-Schwestern; es gab auch drei Brüder, von denen T.V. Soong wohl der bekannteste war. Als ich Madame Sun in der französischen Konzession besuchen durfte, war es gerade chinesisches Neujahr. So lernte ich Mandelmilch, eine südchinesische Spezialität, die mir angeboten wurde, kennen. Neujahr in Shanghai war eine Besonderheit, man konnte damals viermal im Jahr Neujahr feiern, immer zu einer anderen Zeit: Wie gewöhnlich am 1. Jänner; das chinesische Neujahr ist beweglich wie Ostern im Westen und kann auf Ende Jänner, oft aber auch erst in den Februar fallen. Das russische Neujahr wird zwei Wochen nach dem westlichen gefeiert; das jüdische Neujahr fällt auf den Herbst nach der Ernte — damals, nach 1917, waren eine Menge Juden in Shanghai, lange vor Hitlers Verfolgungen. Shanghai war eben ein Sammelsurium von Gegensätzen, guten und schlechten. Die verschiedensten Nationalitäten lebten nebeneinander, aber nicht miteinander, das hatte ich schon bald herausgefunden. Für mich war der Angriff der Japaner auf Shanghai im Jänner 1932, als ich noch nicht da war, eine Greueltat. Aber sogenannte Philanthropen versicherten mir, „nur die Japaner könnten die Chinesen im Zaum halten“, so daß sie sich nicht einmal auf den Gehsteig wagten! Chinesen als Menschen, als gleichberechtigt zu behandeln, das war unerhört in den Augen der besitzenden Klassen. Deshalb waren auch die Kommunisten geächtet. In den Herbst 1935 fiel auch ein Ereignis, das mir die Paradoxa der sozialen Verhältnisse in Shanghai ins grellste Licht rückte. Eines Tages hatte ich mir wieder Bücher von der YMCA-Bibliothek geholt, die ich samt meiner Handtasche unvorsichtigerweise lose auf dem Arm trug. Als ich auf der Nanjing-Road vor einer Auslage stehenblieb, um mir etwas anzuschauen, fühlte ich plötzlich einen Ruck — und meine Handtasche war weg. Ich schrie auf - meine Wohnungsschlüssel waren doch in der Tasche, wie sollte ich nach Hause kommen? Taschendiebstähle waren in Shanghai üblich; nun war es auch mir passiert. Aber der Dieb, der mir meine Tasche vom Arm runterriß, muß ein Anfänger gewesen sein! Wenn er über die Nanjingstraße auf die andere Seite geflohen und in eine der Seitengassen eingebogen wäre, hätte man ihn nie wieder gefunden. Er aber rannte an den taghell erleuchteten Schaufenstern der Shanghaier Power Company entlang, und so dauerte es kaum ein paar Sekunden, bis ihn jemand ergriff und dem nächsten Sikh-Polizisten übergab. Es kam zu einer Gerichtsverhandlung, der ich beiwohnte und um Milde für den Dieb bat. Er machte geltend, daß er arbeitslos und hungrig gewesen sei. Also bekam er ein paar Monate weniger als üblich aufgebrummt. Ich erfuhr, daß die Heilsarmee eine Station beim Gefängnis hatte. Also ließ ich mir sagen, wann „mein“ Dieb entlassen würde, war zur Stelle und gab dem Heilsarmeemann etwas Geld, damit der Bestrafte einen kleinen Handel in seinem Dorf beginnen konnte. Und dann kam der Mann, der meiner Handtasche wegen Monate im Gefängnis gesessen hatte, sah rosig, gesund und viel ansehnlicher aus als zur Zeit seines Delikts! Mir wurde klar, daß er im Gefängnis regelmäßig zu essen bekam und ein Dach über dem Kopf hatte, also sozusagen ein regelmäßiges Leben führen konnte. Das war Shanghai, wo „Freiheit“ für viele Hunger und Obdachlosigkeit bedeutete, während Gefängnis Lu Xun (1881-1936). — Ruth Weiss bezieht sich wohl auf Käthe Kollwitz’ Holzschnitt „Opfer“ (1931), der in Shanghai zum Gedenken an den am 7.2. 1931 von der GuomindangGeheimpolizei ermordeten jungen Schriftsteller Dschou Schih veröffentlicht wurde. Am 7. April 1936 schrieb Lu Xun darüber seinen Essay „In tiefer Nacht geschrieben“. Kollwitz’ Werke zeigten, „daß es Unterdrückte und Entrechtet, unsere natürlichen Freunde, an vielen anderen Orten der Erde gibt und — daß unter ihnen Künstler leben, die trauern, protestieren und für sie kämpfen.“ Es gebe eben nicht nur den brüllenden Adolf Hitler, sondern auch „eine andere Art Menschen ...: zugänglich, bereit, zu bemitleiden und sich bemitleiden zu lassen, dies alles ohne billiges Heroisieren.“ einem Menschen eine gewisse Sicherheit gab. Die Welt war auf den Kopf gestellt. Durch Agnes Smedley lernte ich auch Lu Xun kennen, den modernen Schriftsteller, sozialen Kritiker, Kunstförderer ... Lu Xun wohnte in einem Reihenhaus im Norden der Stadt. Da ich aber erst am Anfang meiner Chinakenntnisse stand, konnte ich weder tiefschürfende Gespräche mit Lu Xun führen noch wesentliche Fragen stellen. Aber sein einfaches Wesen beeindruckte mich tief. Im Gedächtnis ist mir geblieben, daß er mir bei einem meiner Besuche ein großformatiges Album aus feinem Hsuan-Papier (das Tinte oder Tusche leicht aufsaugt) überreichte, das Nachdrucke von Käthe Kollwitz-Grafiken enthielt, mit einem Vorwort von Agnes Smedley. Der Name Käthe Kollwitz war mir noch aus Europa bekannt; daß dieses Kunstwerk nur zwei Dollar kosten sollte, schien mir unglaublich — aber Lu Xun hatte die Antwort bereit: „Zwei Dollar sind viel Geld für unsere Freunde!“ Obwohl Lu Xun in der Umgangssprache schrieb, konnte ich seine Werke weder damals noch heute lesen, erst in späteren Jahren gab es englische Übersetzungen, auch deutsche, wodurch mir der Schriftsteller immer näher kam. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, daß ich so wenig wußte, worüber ich mit ihm hätte sprechen können. Erst 1985 raffte ich mich dazu auf, ein Buch zu schreiben, in dem ich darlegte, was ich aus Lu Xuns Werken mit der Zeit lernte - ich schrieb es auf Englisch, es hat den Titel Zu Xun - A Writer for All Times („Ein Schriftsteller für alle Zeiten“) und ist hier im Verlag New World Press herausgekommen. 41