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Über ihr umfangreiches Hörspiel, von dem wir einen kurzen Ausschnitt bringen, sagte die Autorin in einem Interview, es „ist ein großes programmatisches Stück entstanden, das nicht den Wunsch hat, einem Einzelschicksal nachzugehen, sondern das sich vielmehr mit der Vielfältigkeit von Lebenswirklichkeiten beschäftigt, mit den Verwicklungen, mit der Notwendigkeit, sich mit großen und schwierigen Dingen auseinanderzusetzen“. Auf die Frage nach der Konstruktion des Textes antwortete Ursula Krechel: „Eine Notwendigkeit war die Wahrung der Vielstimmigkeit: Da gab es einerseits den fremden Blick der deutschen Juden auf China, andererseits den Blick der Chinesen auf diese Leute. “. Nach ihrer Intention befragt, erklärte sie: „Diese Ausgesetztheit so fern von überall hat mich immer sehr bewegt, und alle Zeugnisse darüber schienen mir kostbar zu sein, weil so wenig darüber bekannt ist.“ Hr. Kronheim: Meine Shanghaier Uhrmacherkarriere sah so aus: An festgesetzten Vormittagen saß ich im Cafe und nahm Uhr- und Schmuckreparaturen an. Der Kellner bekam dafür eine Provision. Bald hatte ich einen kleinen Kundenstamm, der mich weitervermittelte. Ich überredete die Vermieter, mir ein Eckchen in ihrem Laden einzuräumen, das mit einem Vorhang abzutrennen war. Ich brachte auch ein dreisprachiges Schild an der Hausecke an. Uhren- und Schmuckreparaturen. Der Kellner schickte mir Kunden aus dem Cafe. Ich saß in meiner winzigen Werkstatt, und wirklich, ich hatte zu tun, es kamen Kunden. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich selbständig, kläglich zwar, aber es ging. Mr. Tata: Aus Europa kam die Nachricht, Krieg ist ausgebrochen. Falsch: Der Krieg war nicht ausgebrochen. Der Krieg war angezettelt worden. Entfesselt worden. War er vorher gefesselt? Hat Hitler nur die Stricke durchschnitten, als er in Polen einmarschieren ließ? Mr. Sibley-Brown: The Germans have just announced, that if Warsaw does not surrender within twelve hours, the German army will use all military methods to subdue it. Mr. Tata: Die Europäer wußten nicht mehr, was Krieg ist. Sie hätten uns fragen sollen. Fluchtwege waren plötzlich abgeriegelt, Schlupflöcher versperrt. Die Engländer machten den Suezkanal dicht, keine italienischen Passagierschiffe kamen mehr durch den Suezkanal. Im Mittelmeer kreuzten Kriegsschiffe. Hr. Storfer: Wer jetzt noch flüchten konnte, dem blieb nur der Landweg über Moskau. Eine Weltreise im Eisenbahnabteil, eine Himmelfahrt. Fr. Blau-Haas: Der Krieg. Der Krieg. Wer hätte gedacht, daß auf England Bomben fallen? Wir waren in furchtbarer Sorge. So viele Kinder aus Deutschland und Österreich waren mit Kindertransporten im letzten Moment nach England gereist. Mr. Sibley-Brown: And now darkness. A new world. Black-out, bombs, slaughter. Nazism. Now the night and the shrieks and barbarism. Hr. Storfer: Viele unter den Emigranten dachten, der Krieg ist rasch zu Ende. Laß Hitler nur siegen, dann sind wir bald wieder zu 58 Haus. Eine Haltung, der mit vermehrter Information entgegengetreten werden mußte. Hr. Kronheim: Wie sonderbar, ich verstehe die Welt nicht mehr. Ich würde gerne die Welt verstehen. Als Emigrant verstehe ich Bahnhof. Ich zahle Miete, Elektrizität, Gas, zahle Abgaben, zahle für das Kiibelleeren als Ersatz für eine Wasserspülung. Der Hausbesitzer ist sehr interessiert, schon dreimal kam er, überaus freundlich, und verlangte Mieterhöhung. Auf welcher Grundlage? Er lächelt, hält die Hand auf, zuckt die Achseln. Das ist die Grundlage. Ich verstehe. Frühmorgens oder im Schutz der Dunkelheit am Abend kommen starke Kerle, halten ebenfalls die Hand auf. Scherzkekse. Ich halte auch die Hand auf, lächele, tue, als wäre das ein guter Scherz. Auf welcher Grundlage? Sie bleiben, drohen, halten weiter die Hand auf. Das ist die Grundlage. Sie drohen, den Laden anzuzünden. Ich bin juristisch nicht beschlagen, ich bin Uhrmacher, aber ich bin auch ein Opfer von Schutzgelderpressern. Ich suche eine Lücke, höre mich um bei anderen Emigranten. Schutzgeld gehört in Shanghai zum Geschäft. Auf dieser Grundlage läuft das Geschäft so leidlich. Wo kein Gesetz ist, ist keine Gesetzeslücke. Leider. Hr. Storfer: Wo Bluff das ABC ist, muß ich Analphabet bleiben. Auch im Schnorren stehe ich nicht meinen Mann. Fr. Bamberger: Woher Die Gelbe Post ihr bißchen Kapital bezogen hat, weiß ich nicht. Hr. Storfer: Ich schrieb über den Judenhaß in der Welt. Über Freuds damals neuestes Buch Der Mann Mose, es war die erste Reaktion auf dieses Buch in einer deutschsprachigen Zeitschrift, und das in Shanghai, weit von wo. — Ich schrieb auch, daB der Emigrant sich nicht um sein Innenleben kümmern kann. Und wenn er ein Innenleben hat, besteht es aus unerfüllten Hoffnungen, daß sich alles zum Guten wendet. Ich schrieb auch über die Hoffnungen der Chinesen, warb um Verständnis für deren Innenleben, für deren offene Augen wir uns vielleicht allzu wichtig nahmen. Diese Mahnungen waren nicht allzu beliebt. Mr. Tata: Seltsame Leute sind die Deutschen. Warum lassen sie die Papierballen und die kleinen Bleibuchstaben nicht einmal ruhen? Sie laufen doch nicht davon über Nacht. Die Deutschen leiten Chinesen an, ihre Kulissen zu schieben nach ihrem Geschmack. Die Chinesen tun es, haben häufig getan, was Weiße ihnen gesagt haben. Tun es wieder. Langen in die Kästen mit den Drucktypen und setzen deutsche Zeitungen. Gelbe Leute, schwarz vor Druckerschwärze. Mr. Sibley-Brown: Excellent stage plays are produced at frequent intervals by local associations of amateurs, and touring companies are occasionally here for limited engagements. Mr. Tata: Ein Bienenschwarm von Zeitungsfritzen, die sich die Schuhsohlen abwetzen fiir ein Blatt, das übermorgen nicht mehr existiert. Seltsame Leute sind die Deutschen. Hr. Storfer: Auf die Beine gestellt ist das Kartenhäuschen, das kein Luft