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Es gab Stimmen im Deutschen Generalkonsulat, die behaupteten, die Amerikaner hätten absichtlich ihre ausgemusterten Kriegsschiffe in Hawai stationiert: vor den Augen der Japaner. Als eine rostige Provokation, weil Roosevelt endlich in den Krieg eintreten wollte. In der Hybris, Deutschland zu schlagen in einer großen Anti-Hitler-Koalition. In Unkenntnis der deutschen Waffengewalt, der moralischen Überlegenheit. Blickte ich während eines Taifuns, wie er manchmal Shanghai überschwemmte, von unserem zwölften Stock hinab, so erschien mir unser Hochhaus in der Französischen Konzession wie eine sichere, von Fluten umspülte Insel. Wir waren Deutsche. Wir liebten unser Land, aber unsere Aufgabe war hier. Wir mochten auch Shanghai, diese wunderbare internationale Insel. Ein kaum berührtes Eiland im Sturm des Zweiten Weltkrieges. Ob auf den Tennisplätzen Briten oder Japaner spielten, egal. Wir Deutschen spielten fair und kameradschaftlich, verteidigten unser Deutschtum im Fernen Osten, fügten uns den vielfältigen gesellschaftlichen Verpflichtungen in der Deutschen Gemeinde. Frl. Ling: Einen Tag nach Pearl Habor besetzten die Japaner das ganze Internationale Settlement Shanghais. Sportplätze wurden unerbittlich bewachte Lager für feindliche Ausländer, Betriebe konfisziert, der ausländische Besitz beschlagnahmt. In die Villen der Amerikaner, der Briten zogen japanische Offiziere. Plötzlich schien es, als wäre der Westen im Fernen Osten machtlos. Plötzlich gehörte der Ferne Osten sich selbst, beinahe. Mr. Sibley-Brown: All British and American citizens were arrested in a Japanese concentration camp. This had been the end of twenty years in the Far East jewellery bussiness, especially jade. Frl. Ling: Aber was war der Osten? Fast ganz Südostasien war von Japanern besetzt. Die chinesischen Kommunisten hatten sich in den Bergen eingegraben, rückten Meter für Meter nach Süden in zäher Geduld. In Nanking regierte ein Operettenregime von Japans Gnaden. Operettenregime, eine falsche Perle aus meinem deutschen Wörterbuch. Eine Operette habe ich nie gehört. Frl. Bamberger: Mit dem Beginn des Pazifik-Krieges blieben die Gelder der Hilfsorganisationen aus Amerika aus. Manche Emigranten gerieten in Panik. Waren vorher jeden Tag in den Heimen 8.000 Essen für Emigranten ausgegeben worden, so waren es jetzt nur noch 4.000 für Kinder, Alte, Kranke. Wir anderen Vierzehntausend mußten sehen, wie wir uns ernährten. Viele sind in dieser Zeit an Unterernährung gestorben oder zogen sich Mangelkrankheiten zu, die nie richtig ausheilten. Hr. Kronheim: Also, das ist eindeutig. Die Hauptlast des täglichen Lebens trug meine Frau. Nach und nach verschwanden alle möglichen Dinge vom Markt. Nicht, daß es sie nicht gab; aber das Leben wurde unerschwinglich. Da hat sie Gemüse eingekocht, einen kleinen Vorrat. Wann immer es etwas gab, hat meine Frau es eingekocht, so sind wir nicht krank geworden, dank meiner Frau. Hr. Storfer: Wir hatten zwar kein Geld mitbringen dürfen, aber viele Emigranten hatten Bücher, Bilder, Tischwäsche, Tafelsilber und Schmuck, den sie nach und nach verkauften. Da streifte jemand vom Konsulat vorbei, streifte mit begehrlichem Blick die schöne Heine-Ausgabe in elf Bänden von 1925 oder eine Graphik. Daß der Künstler längst „entartet“, war angeblich noch nicht zu ihm gedrungen. Darüber sah man vornehm hinweg und bildete sich womöglich noch etwas auf seinen Mut ein. Und der 60 Emigrant war froh, wenn er einen Käufer fand. Und der fesche junge Mann vom Konsulat erstand eine sehr schöne HeineAusgabe, gutes Exemplar, eine Radierung aus dem „Blauen Reiter“, ein wunderbarer Kauf, doch niemand durfte das wissen. Frl. Bamberger: Es war gar nicht so leicht, der Frau vom Ortsgruppenleiter klar zu machen, daß sie nicht beim Juden einkaufen durfte. Zum Entsetzen der Nazis kauften die Auslandsdeutschen bei den Juden. Der Ortsgruppenleiter wurde abgesetzt, weil seine Frau einfach nicht kapiert hat: bei Juden kauft man nicht. Plötzlich gab es so elegante Dinge in Shanghai, die Wienerinnen öffneten ihre Koffer. Berlinerinnen trennten sich von ihren Hüten. Für Bibliotheken war kein Platz. Eine Geige. Tischwäsche mit Monogramm. Ich wühlte in meinem Koffer, was verzichtbar war. Eine Weckeruhr, das Fleckenwasser, ein Handspiegel, Parfüm, die Grammophonnadeln, weg, weg. Wenn auch in Shanghai geschossen worden war, war die Frau vom Ortsgruppenleiter doch weit vom Schuß. Konsularbeamter Meyer: Die deutsche Kolonie beglückwünschte die Japaner und sich selbst, drang in die Lücken, die die Briten und Amerikaner gelassen hatten. Die harten Währungen Dollar, Pfund waren vom Markt gefegt, und die deutsche Mark stieg entsprechend. Ich bezog ein für meine Begriffe phantastisch hohes Gehalt in Reichsmark. Alles war käuflich. Fr. Blau-Haas: Ich war jetzt mit meiner Arbeit vollkommen auf die Bedürfnisse der Emigranten angewiesen, die selbst kein Geld hatten. Uns blieb nichts anderes übrig, als nach und nach einen großen Teil der in unseren Koffern mitgebrachten Sachen zu verkaufen. Alles, was zu Geld zu machen war, weg. Die Sachen fanden bei Chinesen, Japanern und auch Deutschen ganz guten Absatz. Wir konnten so über die schlimmste Zeit hinwegkommen. Mr. Tata: Die Weisen sagen: Ein Mensch muß ein so großes Herz haben, daß ein Schiff darin wenden kann. Ursula Krechel, geb. 1947, Dr. phil., studierte Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Sie arbeitet als freie Autorin — schreibt Gedichte, Prosa, Theaterstücke, Essays und Hörspiele — und lebt heute in Berlin. Die eingangs zitierten Aussagen entstammen einem Interview, das im Programmheft zum Hörspiel „Shanghai fern von wo“ gedruckt ist. Die Erstsendung des zweiteiligen Hörspiels erfolgte im Südwestrundfunk am 15. und 22.9. 1998. Über ihre Arbeit an diesem Text schrieb Ursula Krechel im Marbacher Magazin 74/1996 — „Vom Schreiben 4. Im Caféhaus oder Wo schreiben? “: „Ich war nach Shanghai gekommen auf der Suche nach Spuren der knapp zwanzigtausend jüdischen Flüchtlinge. (...) Ich ging ihre Wege, huschte in Hauseingünge, die einmal zu ihren schäbigen Unterkünften geführt hatten. Eine Synagoge war einer Druckerei zugeschlagen worden. Es war nicht schön in Shanghai, es war laut und luftfeucht, die Lastwagen rumpelten, die Fahrräder klingelten, aber es war fremd genug. Ich war großräumig verloren in einer Schrift, die ich nicht lesen konnte, unter Menschen, deren Lebensnotwendigkeiten Lichtjahre, Kontinente von meiner Verschriftlichung entfernt waren. Ich hatte mich in der Unlesbarkeit ausgesetzt. Ich sah die kirschdunklen Kontrollaugen in der Pförtnerloge des Gästehauses, die energische kleine Frau, die durch Zahnlücken hindurchlächelte, in deren Obhut, was sage ich, in deren Gewalt das einzige Telephon war, die Mithörzentrale, doch meine Sprache verbarg sich vor der Mitschrift, fremdelte, meine Schrift war unleserlich. So verließ ich den Ort mit tintenschwarzer Zeichenhaftigkeit. “