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Zu Beginn der fast vierjährigen Arbeit an unserem Film Zuflucht in Shanghai/The Port of Last Resort stand der Wunsch, die Geschichte dieser Emigration mittels Originaltexten und audiovisuellen Archivdokumenten so unmittelbar wie möglich darzustellen. Angeregt wurden wir zu dieser Vorgangsweise durch das Lesen von Briefen, unpublizierten Memoiren und anderen Berichten aus Shanghai, die entweder während oder unmittelbar nach dem Krieg geschrieben worden sind. Die schon lange nicht mehr existierende Emigrantenwelt erschien uns dabei wie Gestern, fast wie in einem Traum. Die Distanz von fünfzig Jahren Nachkriegsgeschichte war auf einmal weg, und wir fanden uns mitten im Shanghai der dreißiger und vierziger Jahre wieder. Längst nicht mehr existierende Straßennamen wie Chusan Road, Seymour Road oder East Broadway sowie Emigrantencafes und Restaurants wie das „Cafe Louis“ der Familie Eisfelder, das „Cafe Barcelona“, das „Weiße Rössl“ oder der „Tabarin Nachtklub“ wurden ein Teil unserer täglichen Gespräche und Gedanken. Die Briefe und niedergeschriebenen Berichte von Menschen, mit denen wir nicht mehr reden konnten, der Elterngeneration, die es, im Gegensatz zu den damaligen Kindern, ja viel schwerer hatte, erzählten uns einen großen Teil der Geschichte dieser Emigration. Allein die zweifellos schwierige Frage der filmischen Illustration dieser unmittelbaren Leseerfahrung aus erster Hand stand noch offen, denn unsere Archivfilmfunde waren zu Beginn eher bescheiden. Schließlich, nach langer Suche und mit großzügiger Unterstützung aller Beteiligten, wurden wir fündig: die 8mm Filmaufnahmen der Familie Voticky von der Schiffsreise HB Wp ee | N N Ee LILDREN OFTHE PRODUCED BY TUNG & KING DIRECTED BY L. & J. FLECK Filmposter zu „Children of the World“ Foto: Sammlung Walter Kolm Veltee, Sammlung Paul Rosdy nach Shanghai, die Filme des Altösterreichers Charles Bliss, die Aufnahmen des in Shanghai lebenden Amerikaners Eric Schmidt sowie zeitgenössische japanische und amerikanische Wochenschauen und Dokumentarfilme gaben uns die Möglichkeit, den Film so zu gestalten, wie wir es uns ursprünglich vorgenommen hatten. Weitere, äußerst wichtige Aspekte der Gestaltung waren natürlich die Interviews, die wir mit den Zeitzeugen geführt hatten, die Musik — eine Mischung aus Originalkompositionen von John Zorn und von uns ausgewählten zeitgenössischen Aufnahmen — und die Tonarbeit, denn die Wörter und Bilder aus der Vergangenheit hätten alleine noch keinen packenden Film ergeben. Erst die kollageartige Zusammenführung von Textdokumenten, Interviews, Fotos, Filmen, Tonaufnahmen und Musik erzeugten die von uns erwünschte Wirkung der unmittelbaren Erfahrung einer längst vergangenen Zeit an einem Ort, der sich durch fünfzig Jahre Kommunismus ebenfalls völlig verändert hatte. Unsere langjährigen Recherchearbeiten brachten eine große Anzahl von wertvollen und bisher unbekannten Dokumenten hervor. Die Notwendigkeit, aus diesem großen Fundus aus vier Kontinenten - bestehend aus Film, Foto, Text und Ton - einen Dokumentarfilm zu editieren, hatte unweigerlich zur Folge, daß viele dieser Dokumente während der einjährigen Nachbearbeitungsphase des Films dem Schneidetisch zum Opfer fielen bzw. nur am Rande erwähnt werden konnten. Dieser Artikel konzentriert sich daher auf drei Fußnoten zum Thema Emigration und Film: Biographisches über den Filmemacher Charles Bliss und seine in Shanghai gedrehten Filme, die österreichischen Filmpioniere Jakob und Luise Fleck und ihren in der Emigration entstandenen Spielfilm Kinder dieser Welt und über den leider nie fertiggestellten Emigrantenfilm Driven People/Under Exile/Sokoku o owarete. Der Filmnachlaß des Altösterreichers Charles Bliss (Karl Blitz) Erste Informationen über einen gewissen Charles Bliss fanden wir im Jahre 1995 im Literaturarchiv in Wien. Das Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration erwähnt, daß ein Charles Bliss (in Shanghai änderte er seinen ursprünglichen Namen Karl Blitz) im Jahre 1897 in Czernowitz, Bukowina (damals Österreich-Ungarn, heute Ukraine) geboren wurde. Er studierte an der Technischen Hochschule in Wien und arbeitete anschließend in der Patentabteilung einer großen Elektrofirma in Wien. Einige Tage nach dem „Anschluß“, am 18. März 1938, wurde er von den Nationalsozialisten verhaftet. Nach 13 Monaten Haft in Buchenwald und Dachau gelang es ihm, ein Ausreisevisum nach England zu bekommen. Über Kanada reiste er nach Shanghai weiter, wo er sich mit seiner über Rumänien, Griechenland und Sibirien geflüchteten Frau Claire am 24. Dezember1940 wieder vereinte. Weiters entnahm ich diesem Handbuch die recht erstaunliche Information, daß Bliss in seiner späteren Heimat Sidney eine auf chinesischen Schriftzeichen basierende Schrift entwickelt hatte, die in den siebziger Jahren in Toronto in einer Schule für behinderte Kinder Anerkennung und Anwendung gefunden hatte. 1974 wurde in Kanada und Australien der Film Mr. Symbol Man über Charles Bliss’ Erfindung gedreht. 61