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Mit zunehmendem Interesse am Exilort Shanghai ist in den vergangenen Jahren neben Tagungen, Autobiographien und wissenschaftlicher Forschung auch ein verstärktes filmisches Interesse am Thema erwacht. Zwar gab es schon früher Versuche, das Shanghaier Exil im Film festzuhalten, doch zeichnen sich zwei der jüngsten Produktionen durch spezifische Herangehensweisen aus, die sowohl von den aktuellen Ergebnissen der Geschichtsforschung als auch durch ihre künstlerischen Mittel geprägt sind. Beide Filme versuchen, eine neue Erzählstruktur zu entwickeln und die herkömmliche Form einer scheinbar objektiven Dokumentation zu hinterfragen. Dabei gehen Ulrike Ottinger, deren beeindruckendes Oeuvre sowohl Dokumentarfilme als auch bereits legendäre Spielfilme umfaßt, und das junge Filmemachergespann Joan Grossman und Paul Rosdy auf höchst unterschiedliche Weise vor. Während Ulrike Ottinger in Exil Shanghai die Erzählungen der betroffenen Menschen mit den Bildern der modernen chinesischen Gesellschaft umschließt, verbinden Joan Grossman und Paul Rosdy in Zuflucht in Shanghai die persönlichen Erfahrungen Einzelner mit Material aus dem historischen Fundus. Neben der Suche nach einer vergangenen Zeit, die für viele auch eine verlorene war, wird die Darstellung von Geschichte und die damit verbundene Problematik thematisiert. Der zeitliche Rahmen, in den Ulrike Ottinger ihr Exil Shanghai stellt, setzt sich sowohl aus der Gegenwart der sich Erinnernden als auch jener der ZuseherInnen zusammen. Weder steht persönliches Dokumentationsmaterial der Betroffenen im Vordergrund, noch ist die Suggestion historischer Aufnahmen gegeben. Die Konstruktion von Geschichte als persönlichem Erfahrungsbild und die Herausforderung an die ZuseherInnen, ebenfalls ein subjektives Bild des Damals herzustellen, sind die zentralen Mittel des Filmes. Die Filmemacherin besucht die ehemaligen ShanghailänderInnen an ihrem jetzigen Lebensort, bei allen eine der weiteren Stationen der Emigration. Umgeben von der schützenden Sphäre ihres Privatraumes, erzählen die Frauen und Männer über die Flucht aus Europa, das Leben in einer fremden Kultur sowie über den Einfluß, den diese Zeit auf den Verlauf ihres weiteren Lebens nahm. Zwischen diese Aufnahmen fügt Ottinger Bilder aus der heutigen chinesischen Millionenmetropole ein. Radfahrer, Straßenhändler, Nudelgarküchen — Menschen und eine Stadt im Alltag. Statt des künstlichen Gedächtnisses historischer Bildmaterialien setzt sie die Dynamik des Lebendigen ein, die den ZuschauerInnen bei der Zusammenstellung ihres Eindruckes behilflich sein soll. Dabei wird vom Publikum jene Bereitschaft zum Diskurs (und zum Assozieren) abverlangt, welche die Filmemacherin selbst vorführt. Die Absenz historischer Dokumente erklärt sich durch das Verweben der Gegenwart mit der retrospektiven Erzählung der ehemaligen Flüchtlinge zu einem neuen Text; denn die aktuellen Aufnahmen, die mit der Flüchtlingsgemeinde der dreißiger und vierziger Jahre nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen, könnten möglicherweise als der Blick der Ankommenden auf die neue und unbekannte Umgebung gelesen werden. Keine fernen, in distanzierendem schwarzweiß gehal66 tenen Bilder vermitteln die Exotik und Verunsicherung, welche die ins Exil Gezwungenen erwartet haben mag, sondern Szenen und Bilder, die wir heute auch selbst erleben könnten. Ulrike Ottinger gelingt es so, den Kreis zum Hier und Jetzt zu schließen und damit eines der wichtigsten Kriterien eines Dokumentarfilmes zu erfüllen: dem Publikum Berührungspunkte zwischen Geschichte und Gegenwart, dem eigenem Dasein zu geben. Durch die sensible Beobachtung - Ottinger ist auch Kamerafrau des Films — sucht sie den Rahmen der Geschichte ab, zeigt die Bedingungen der Wahrnehmung und hinterfragt tradierte Konzepte von Authentizität. Einzig durch die zeitweilige Redundanz der Erzählungen der ZeitzeugInnen gerät der Film in Gefahr, ein einseitiges Bild des Exilortes Shanghai zu zeichnen. Die Wiederholung von Tatsachen ist zwar aus der Perspektive der ShanghailänderInnen und der Arbeitsweise Ottingers verständlich, wirkt jedoch im Laufe des fünfstündigen Filmes unnötig. Die Auswahl der Erzählenden läßt einerseits ungewöhnliche Perspektiven zu, vermittelt aber andererseits den Eindruck eines relativ ungefährdeten Alltags — eine Tatsache, die für viele gestimmt haben mag, doch das harte Schicksal derjenigen vernachlässigt, die im Lauf der Jahre keine Existenz aufbauen konnten und ohne die „Heime“, Auffangstätten für die Ärmsten, nicht hätten überleben können. Dem Problem der Wiederholung durch die historische Aufzählung, die Zeitzeugen oft als Rahmenwerk ihres Berichts gebrauchen, entgehen die AutorInnen des Filmes Zuflucht in Shanghai — The Port of Last Resort. Das amerikanisch-österreichische Team Joan Grossman und Paul Rosdy läßt seine Dokumentation_den Briefen folgen, welche die Berlinerin Annie Witting und der österreichische Publizist Adolf Josef Storfer aus dem Shanghaier Exil schrieben. Daneben sind Interviews mit vier ehemaligen Flüchtlingen zu sehen. Im Gegensatz zu Ottingers Film wird bei dieser knapp achtzig Minuten langen Produktion nahezu ausschließlich historisches Bildmaterial verwendet. _ Durch eine intensive Recherche konnten außergewöhnliche Dokumente gefunden werden, darunter ein noch nie gezeigter Farbfilm eines amerikanischen Touristen aus der Zeit des „Anschlusses“ Österreichs an Deutschland. Diese Farbaufnahmen, auf denen mit antisemitischen Parolen beschmierte Geschäfte zu sehen sind, erzeugen eine überraschende Nähe, welche die ZuseherInnen den Schrecken der Unterdrückung besonders intensiv nachvollziehen und die Ausgangssituation der kommenden Flüchtlingswelle erfassen läßt. Neben Familienfilmen von der Überfahrt auf einem Schiff des „Lloyd Triestino“ sind weitere Amateuraufnahmen vom Alltag in der Internationalen Konzession Shanghai zu sehen. Dabei wechseln sich Sequenzen der scheinbar unbeschwerten Schiffspassage mit jenen der Elendsquartiere ab, welche die meisten Flüchtlinge im Stadtteil Hongkew beziehen mußten. Archivbilder der japanischen Okkupation und des Krieges zeigen schließlich, wie instabil die politische Lage im damaligen China war. Auch das harte Leben der chinesischen Bevölkerung, meist noch ärmer und aufgrund des kolonialen