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Rassismus des alten Shanghais weitaus unterprivilegierter als die Flüchtlinge, wird hier angesprochen. Dies ist ein wichtiger Punkt, der bei vielen der früheren Aufarbeitungen des Themas fehlt oder nicht genügend hervorgehoben wurde. Die Korrespondenz A.J. Storfers, Herausgeber der Gelben Post, läßt die beruflichen Schwierigkeiten erahnen, welche die meisten Ankommenden hatten. Im angestammten Beruf konnten die wenigsten weiterarbeiten, und für Unterfangen wie eine intellektuelle Zeitschrift gab es in diesen Zeiten keinen großen Bedarf. Die Briefe Annie Wittings, auf der Reise nach China beginnend und im Begriff, das Neue erst kennenzulernen, stehen in Gegensatz zu den Erzählungen der Interviewten, allesamt in den neunziger Jahren aufgezeichnet und damit in Erinnerungsform vorgetragen. Was also schon gewesen ist, besteht im Film weiterhin als Gegenwart und Zukunft Annie Wittings. Dieses Spannungsverhältnis, das Noch-nicht- und das SchonGeschehene und deren gleichzeitige Darstellung, das nach Frieda Grafe geprägt ist „vom spezifischen Zeitmodus des Kinos, der präsentisch ist, auch die Vergangenheit bleibt in ihm gegenwärtig“, trägt zur Intention des Filmes bei, Zeitgeschichte nicht nur analytisch betrachten zu wollen, sondern auch das Kontinuum persönlicher Erfahrungen zu berücksichtigen. Während Ottinger den ausgesuchten Einsatz von Zeitebenen und eine spezifische Bildverweigerung wählt um die Einengung des Blicks auf die Vergangenheit zu verhindern, sind Grossman und Rosdy bestrebt, die historischen Dokumente linear zu einer möglichst genauen Collage zu verdichten. Der vielschichtige Einsatz der Bilder ist es, der die zahlreichen Facetten des Exils zeigen soll. Zwischen den Bildern läßt ihr strukturelles Konzept ehemalige ShanghailänderInnen zu Wort kommen, deren unterschiedliche Erzählungen zur Reichhaltigkeit des Filmes beitragen. Wie häufig bei Lebensberichten, kann das Beschriebene von historischen Tatsachen abweichen, ohne deshalb als falsch zu gelten. Als Beispiel kann hier eine oft kolportierte Geschichte angeführt werden: Im Zusammenhang mit dem Besuch des SSObersten Meisinger in Shanghai verbreitete sich das Gerücht, die Deutschen würden auf die Japaner Druck ausüben, um Konzentrationslager für die jüdische Bevölkerung in China zu errichten. Auch wenn diese Geschichte von der Exilforschung nie belegt wurde, ist sie zu einer festen Größe im Leben vieler Flüchtlinge geworden. In dieser Zeit der Verfolgung war sie, obwohl wahrscheinlich unzutreffend, ein allzu realer Spiegel des Schreckens und der Angst der Menschen. Die Mythen und Phantome des Exils werden so zu einem wichtigen Bestandteil der Erzählung und ein Garant für die persönliche Authentizität. Denn auch wenn sich der genaue Punkt innerhalb der Koordinaten von Zeit, Ort und Dinghaftem nicht fixieren läßt und somit eine Geschichte nicht als Tatsache gelesen werden kann, kann sie trotzdem als Zustandsbeschreibung menschlichen Seins Gültigkeit haben. Die intensive Recherche und der sorgfältige Einsatz der Dokumente zeigen die enge Verbundenheit der AutorInnen mit dem Thema. Nicht nur im Bildbereich haben Grossman und Rosdy Erstaunliches zu Tage gefördert, sondern auch im musikalischen. Das Umsetzen damaliger Kompositionen in gespielte Musik ist ein weiteres Beispiel für ihr Engagement. Drei Musikstücke, vom Wiener Arzt Alfred W. Kneucker im Shanghaier Exil komponiert, wurden für den Film erstmals aufgenommen und neben der Filmmusik John Zorns punktuell eingesetzt. An manchen Stellen des Filmes wäre jedoch eine weniger dichte und illustrierende Tonregie wirksamer — beispielsweise wenn tonlose Archivaufnahmen von Reissäcken aus einem Hilfsgütertransport mit dem Geräusch fallender Reiskörner unterlegt werden. Sowohl Zuflucht in Shanghai wie auch Ottingers Exil Shanghai sind von einem außerordentlichen Interesse an der Materie bestimmt. Die besondere Verbundenheit der AutorInnen mit dem Thema ist es, die den unterschiedlichen Ansätzen einen gemeinsamen Nenner gibt. Dank des künstlerischen Konzeptes und der suggestiven Bilderwelt von Exil Shanghai wie auch des prägnanten dokumentarischen Stils von Zuflucht in Shanghai gelingt es beiden Filmen, ein vergessenes Kapitel der Geschichte des Zweiten Weltkrieges in unser Blickfeld zu rücken. Jede der Dokumentationen erinnert auf ihre Weise an die entlegene Exilgemeinde im Pazifik, die auch heute noch als Beispiel für das Zusammenleben einer komplex zusammengesetzten Gesellschaft unter schwierigen Umständen gelten kann. In der momentanen Situation, die entscheidend sein wird für den weiteren Umgang Österreichs mit seiner Vergangenheit, zeigen Projekte wie diese auf, daß noch nicht alles gänzlich aufgearbeitet ist, wie von manchen Seiten behauptet wird. Geschichte ist kein Projekt das zu einem Ende geführt werden kann. Jede Generation hat das Recht und die Verpflichtung, ihren Blick auf vergessene und verschwiegene Ereignisse zu richten und diese zu diskutieren. Die erst spät begonnene breite Rezeption des Shanghaier Exils ist ein Beispiel unter vielen, welche Wichtigkeit solchen Themen beigemessen wird. Ein Erhalten dieses Diskurses, in dem Film und Forschung einen wichtigen Platz einnehmen, ist für das Selbstverständnis und die demokratischen Strukturen einer Gesellschaft unerläßlich. Die Weiterentwicklung der apologetischen Einstellung gegenüber der Vergangenheit, welche durch die jüngste Entwicklung in Österreich begünstigt wird, droht allerdings massiv, sich dem in den Weg zu stellen. Simon Wachsmuth, geb. 1964 in Hamburg, studierte Malerei und Visuelle Mediengestaltung und lebt und arbeitet als freischaffender Künstler. 1995 organisierte er mit anderen die Salzburger Tagung „Flucht nach Shanghai“. Über den nach Shanghai emigrierten österreichischen Künstler Friedrich Schiff schrieb er in: Zwischen Theben und Shanghai. Jüdische Exilanten in China — Chinesische Exilanten in Europa. Hg. Hajo Jahn. Berlin: 1998. S. 107-134. SCHIFF Original „Schiff“ Aus: Gerd Kaminski, Chinesische Zeitgeschichte, S. 161 67