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Politische Auseinandersetzungen kleiden sich oft in geschichtliche Kostüme. Bereits die französischen Revolutionäre von 1789 hüllten sich in römische Gewänder. Eine Jugend, die sich mit dem „Widerstand“ gegen die Nazis identifiziert, ist mir um vieles lieber, als die bierigen Glatzen in Bomberjacken und Lederstiefeln oder jene Jeunesse dorée, die mit Säbeln und Kappen herumzieht, sich in Studentenschaften und Burschenschaften besäuft. Nach 1945 wurden Widerstandskämpfer und Exilanten in diesem Land angefeindet. Es ist wichtig und ein Verdienst der „Zwischenwelt“, der Exilliteratur zu gedenken. Was ich im Standard schrieb, richtete sich gegen den Versuch, nicht zuletzt des Bundeskanzlers, die alte Lüge von Österreich als schierem Opfer Hitlers wieder salonfähig zu machen. Sollen wir zuschauen, wie die Erinnerung an Widerstand und Exil mißbraucht wird? Wollen wir vergessen machen, daß viele der Flüchtlinge nicht nach Österreich zurückkehrten, da sie wußten, daß die Mehrheit ihrer Landsleute Teil der nazistischen Tätergesellschaft gewesen war? Dürfen wir zulassen, daß die deutschen Antinazis, die bereits seit 1933 Opfer Hitlers gewesen waren, unerwähnt bleiben, wenn vom ersten Opfer Hilters die Rede ist? Sollen die Opfer der Nazis in Österreich vor 1938 schon in der Ersten Republik gingen die Nationalsozialisten gewaltsam gegen Juden und Linke vor — verschwiegen werden? Und wann wird hierzulande von den Diskriminierungen die Rede sein, denen Juden im Ständestaat spätestens seit dem Juliabkommen im Jahre 1936 ausgesetzt waren? Glaubst Du nicht, daß „Deutschland an sich“, wie Du schreibst, Täterland war? Und ebenso „Österreich an sich“? Verstehst Du nicht, daß „Nepal an sich“ weniger mit Auschwitz, Antisemitismus und Nationalsozialismus zu tun hat als „Deutschland an sich“ und „Österreich an sich‘? Gemeint ist wiederum natürlich nicht Österreich als topographische Erscheinung oder staatliche Organisation, sondern als soziale und kulturelle Entität, als nationale Einheit einer menschlichen Gesellschaft. Die rassistischen Untaten werden nirgends bloß als Aggression des Regimes erinnert, denn sie wurden, ob Arisierung, Vernichtungskrieg oder Massenmord, im Namen des deutschen Volkes durchgeführt. Viele Deutsche und Österreicher beteiligten sich und bereicherten sich an den Verbrechen. Der „Jude“ galt auch bei Millionen, die keine Nazis waren, als Untermensch, als die eigentliche Gegenrasse zur sogenannten „arischen“. Doch selbst wer nicht dem Antisemitismus anhing, konnte unweigerlich zum Komplizen und Nutznießer der Entlassungen, der Zwangsarbeit, der Arisierungen und des Raubzuges im Zuge der antijüdischen Verfolgung werden. Deswegen wird im Zusammenhang mit diesen Massenmorden, bei aller Problematik, die ich nicht leugnen möchte, von Täterland, von Täterkollektiv, von Tätergesellschaft und von Opfergruppen gesprochen. 80 Die Erinnerung an Widerstand und Exil kann helfen, daß Österreich die Antithese zum Nationalsozialismus wird. Die Anstrengungen der „Zwischenwelt“ sind deshalb nicht hoch genug zu bewerten, aber ich werden weiterhin dagegen anschreiben, wenn das Gedenken mißbraucht wird, um die Vergangenheit Österreichs zu beschönigen und die politische Gegenwart zu legitimieren. Doron Rabinovici, Wien, 27. April 2001 Alltag, Literatur, Politik und Dokumente im Koffer „Paris als Metropole des europäischen Exils 1933-1940“: Jahrestagung der Gesellschaft für Exilforschung e.V. in Zusammenarbeit mit der Université Paris III Sorbonne Nouvelle und dem Heinrich-Heine-Haus in Paris, Paris 23./24. März 2001 Wenn Symposien ihr dichtes und hochinteressantes Programm in parallel laufende „Ateliers“ einteilen, fällt die Wahl für den Teilnehmer schwer. So war es auch bei obigem „Colloque International“. Für die Veranstalter hatte die Pariser Professorin Anne Saint Sauveur-Henn die Vorbereitung „koordiniert“, was allerdings bei dem gewichtigen und ausgewogenen Programm sicher ein schwacher Ausdruck für den Arbeitsaufaufwand sein dürfte. Die Tagung umfaßte zwischen den einleitenden Referaten und der abschließenden Zeitzeugen-Podiumsdiskussion zwei Stränge von Vorträgen, die die Parallelität und Überschneidung von Alltag/Literatur und Politik in der Welt der Exilanten eindrucksvoll darlegten. So wurden zuerst „Netzwerke und Organisationen“ der „Topographie und Alltagsgeschichte“ der Exilanten gegenübergestellt, während man sich am zweiten Tag mit „Literatur und Paris-Bildern“ sowie „Literarischen Übertragungen des Pariser Exils“ (Sektion 1) bzw. mit den „Politischen Tätigkeiten“ und der „Überwachung der Emigranten“ (Sektion 2) auseinandersetzte. In seinen einleitenden Worten berührte der Politologe Alfred Grosser, selbst als Kind ins französische Exil gekommen, gleich einige wunde Punkte in der „einheimischen“ Vergangenheitsbewältigung, die Grosser, obwohl nach eigener Aussage „kein spezieller Exilforscher“, aus seiner Familiengeschichte sowie aus heutigem Engagement gut kennt. So wird das Verhalten gewisser Berufsgruppen, beispielsweise französischer Ärzte bei der Aufnahme ihrer jüdischen exilierten Kollegen in Frankreich erst jetzt entdeckt und kritisch erforscht. Nichtanerkennung von Diplomen, mangelnde Gastfreundschaft, dazu Schikanen der Behörden bei der Erteilung von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis wurden auch in weiteren Stellungnahmen bestätigt. Und bis heute, so Grosser, habe sich auf der Polizeipräfektur die Behandlung von Asylanten nicht merklich gebessert. Der Historiker Gilbert Badia nahm denn auch als Verfasser mehrerer einschlägiger Werke die „Verhaltensentwicklung der französischen Bevölkerung und Regierungen gegenüber den deutschsprachigen Emigranten‘ genauer unter die Lupe: von spärlicher oder ganz fehlender Unterstützung, teilweiser Zusammenarbeit zwischen deutschen und französischen Intellektuellen (so der Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur), einer allerdings nur kurzfristig leicht veränderten Haltung unter der Volksfrontregierung (1936/37) mit anschlieendem Rechtsruck bis hin zur Internierung und Auslieferung deutscher und österreichischer Emigranten an Nazi-Deutschland. Noch heute, so Badia, sei der Artikel 19 des Waffenstillstandsvertrages von 1940 in französischen Geschichtsbüchern kaum erwähnt: „Man kann die Beziehungen der Nachkriegszeit z.B. zwischen französischen und deutschen Sozialisten nicht verstehen, wenn man nicht weiß, wie Hilferding und Breitscheid durch diesen Waffenstillstandsvertrag aus dem Leben schieden.‘ (Die beiden deutschen Sozialdemokraten wurden von Vichy der Gestapo ausgeliefert.) Trotz dem breit gefaßten Thema lag der Schwerpunkt naturgemäß bei der deutschsprachigen Emigration, mit einigen Ausnahmen (so Anne Saint-Sauveur in ihrem Einführungsreferat „Paris in den 30er Jahren: Mittelpunkt des europäischen Exils?“ und Claudie Weill: „Die Beziehungen zwischen deutschen und russischen Sozialisten im Pariser Exil“). Saint-Sauveur setzte hinter ihr Thema zwar ein Fragezeichen, kam aber nach der Durchleuchtung sukzessiver Emigrationswellen (Weissrussen, oppositionelle Russen, Italiener, Spanier, rassistisch und politisch verfolgte Deutsche und Österreicher, Polen, Tschechen) jedenfalls zur Überzeugung, daß ab den 1920er Jahren Paris weitgehend den vorherigen Sammelpunkt Berlin abgelöst hatte. Präsentiert wurde auch das kürzlich erschienene Buch von Julia Francke „Paris — eine neue Heimat?“ zum Thema Existenzerhaltung jüdischer Emigranten in Paris. Auch Ursula Langkau-Alex (Amsterdam) beleuchtete die Schwierigkeit verschiedener Exilantengruppen, in Frankreich ein Netz zu finden, vor allem unternahm die Forscherin jedoch in „Zweimal Antifaschismus — zweierlei Antifaschismus?“ den Vergleich zwischen Front populaire und deutscher Volksfrontbewegung in Paris. Das Scheitern der letzteren ist Jaut Langkau-Alex nicht losgelöst vom internationalen Geschehen (Spanischer Bürgerkrieg) zu sehen. Auch waren die Verhältnisse ungleich: hier die französische Volksfront in einem Nationalstaat, dort die deutschen Emigranten mittellos und verfolgt. Die Bemühungen um die Schaffung eines internationalen Flüchtlingsstatuts durch das Pariser Bureau für Asylrecht und Flücht