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Rezensionen Fritz Kalmars „Das Wunder von Büttelsburg“ Fritz Kalmar, 1911 geboren, 1938 aus seiner Heimatstadt Wien vertrieben, lebt in Montevideo. In seinem ersten Buch „Das Herz europaschwer“ (1997) schrieb er sich in vielen bewegenden Einzelschicksalen sein eigenes Heimweh von der Seele. In einer dieser kurzen Erzählungen kehrt ein von den Nazis Verjagter nach dem Krieg zurück und findet im Kreis alter Freunden seine Heimat wieder. Eine wahre Geschichte? Ein Wunschtraum? Das ernüchternde Gegenstück zu dieser versöhnlichen Heimkehr ist die lange Erzählung, die dem vorliegenden Band Titel und Gewicht gibt. Ein in der Emigration verstorbener Büttelsburger soll seinem Wunsch gemäß in seinem Heimatdorf begraben werden. Man erwartet den Sarg. Was der Bürgermeister dem jungen Priester über das Schicksal des Heimgekehrten sagt, hat die Sachlichkeit eines unbefragten Normalfalles. 1939 ging die einzige jüdische Familie des Dorfes „weg“, „also, die was noch da waren“: Herr und Frau Kellermann und ein Sohn. „Nicht mehr da waren eine Tochter und ein Sohn.“ Was der Leser auf den ersten Seiten des Buches erfährt, haben die Büttelsburger lange gewußt, aber nicht wissen wollen. Die folgenden zweihundert Seiten bringen das Verschwiegene zur Sprache und halten Gericht über cin Kollcktiv, das sich der Lüge verschrieben hat und der Wahrheit nicht entgeht. Büttelsburg ist irgend ein Dorf in Deutschland oder Österreich. Auf dem Weg vom Bahnhof zum bereits ausgehobenen Ehrengrab wird der Sarg auf dem Hauptplatz abgestellt und vom Bürgermeister mit gebotener Rührung inkl. Schweigeminute willkommen geheißen. Und nun geschieht das Wunder — wie in einem Märchen, einem unheimlichen. Der Sarg kann nicht weiter transportiert werden, läßt sich nicht begraben. Und er steht ausgerechnet vor dem ehemaligen Geschäft des Toten, das seinerzeit arisiert worden ist. Aber das ist schon so lange her. Darüber spricht man nicht, wohl aber darüber, wie der Sarg zu entfernen sei, und als dies nicht gelingt, wie man mit einem Sarg leben kann, der nicht zu übersehen ist. Der Sarg im Mittelpunkt des Ortes ist das Dingsymbol der Schuld, um das Kalmars vorwärtsdrängende, dramatisch gespannte und spannende Erzählung kreist. Um den unbeweglichen Sarg entwickelt sich eine hektische Aktivität, die „Verdrängung“ des Sarges durch Brachialgewalt ist so vergeblich wie lächerlich — ein Schildbürgerstreich nach dem anderen. Gegen das Unbegreifliche ist selbst der Preßluftbohrer machtlos. Das Wunder wird zum Verhängnis, der Sarg untragbar. Die Feriengäste reisen ab. Endlich die Rettung durch ein zweites Wunder, ein kleines Wirtschaftswunder, das, wie das nationale vor Jahren, das Unbequeme, die Schuld vergessen läßt. Der Sarg wird zum „Event“, Büttelsburg zum Mittelpunkt des Medieninteresses, das Geschäft blüht. Um den Aufschwung mit dem Abzug der Journalisten nicht versanden zu lassen, arrangiert man ein Volksfest mit Trachtenumzug — Tradition, Brauchtum, Unterhaltung erneuern das erschütterte Selbstverständnis der Büttelsburger. Kalmar gelingt in der Satire die Fröhlichkeit und Erleichterung so überzeugend, daß man den Büttelsburgern ihre Unschuld fast glauben möchte. Wenn nur dieser Sarg nicht wäre ... Sein unerträglicher Anblick bewirkt die Wende von Verdrängung zur Wahrheit, von Satire zu schonungslosem Realismus, der keine Komik mehr zuläßt. Die Frustration entlädt sich in Zorn gegen den Sarg, „dieses widerliche Ding“. „Was die Gefühle so zum Kochen brachte, war die unbeantwortete Frage: Warum?“ Der Sarg wird zum Politikum, eine Versammlung wird zum Tribunal. Das Verdrängte kehrt wieder in aller Scheußlichkeit. Die angesehensten Büttelsburger waren Büttel der Barbarei. Und die anderen? Kalmar legt ein ganzes Spektrum der Verhaltensmechanismen bloß, individuelle Variationen innerhalb der älteren Generation: die Täter und Mittäter, Mitwisser, Opportunisten; das Beharren in der Schuld, die Protestreaktionen; man erkennt die Schuld des anderen, rächt sie, erkennt nicht die eigene. Die Pflicht ist die sanktionierte Entschuldigung des Verrates am Freund. Auch der Versuch, sich durch finanzielle Wiedergutmachung die Absolution einzuhandeln, muß versagen. Auch das nur ein lächerliches Manöver jenes „krummen“, berechnenden Denkens, dem Kalmar in einer der Parabeln am Ende des Buches das „gerade“ Denken entgegenstellt. Just dazu sind die Büttelsburger nicht gewillt. Es kommt zu keinem wahren Schuldbekenntnis, keiner Erneuerung. Der Sarg bleibt unbeweglich. Die Vergangenheit überwältigt Büttelsburg. Kalmars besonderes Anliegen sind die „Nachgeborenen“; selbst sie können dem Schatten der Schuld nicht entkommen. In Kalmars Diagnose liegt die Aktualität seiner Erzählung: manche verneinen, ja verhöhnen die Mitverantwortung, glauben sich von ihr „frei“. Die anderen suchen die Wahrheit bis zur furchtbaren Erkenntnis, der Schuld ins Angesicht sehen zu müssen, und sei es das Antlitz der eigenen Mutter. Die Antworten, die der junge Priester Büttelsburgs einem jungen Wahrheitssucher gibt, fordern den Leser ebenso heraus wie Kalmars nicht sehr tröstlicher „Nach- und Vorbericht“. Immer wieder die bestürzende Frage: Werden die Menschen nie lernen, Menschen zu sein? Kalmars Kunst der Charakterisierung, die scharfe Beobachtung, die dramatischen Dialoge zeichneten schon seine Heimwehgeschichten aus Südamerika aus, in denen die Sehnsucht die bitteren Erinnerungen lindern konnte. Mit der Heimatnähe des Wunders von Büttelsburg erweitern sich Kalmars Darstellungmittel. Es gibt Szenen der Erschütterung, des Schreckens, der Unheimlichkeit. Die Gesellschaftskritik drängt zur Satire, und Kalmar erweist sich als ihr Meister: die Dorfpolitik, die amtliche Feier-Rhetorik in ihrer Heuchelei, ihren Sprachblüten; der Tourismus, die Dummheit der Amtsgewalt, die Wichtigtuerei der Lehrerin, die einer höheren Eingebung zu folgen glaubt und in der Niedertracht endet — Kalmar unterwirft sie alle einer strafenden, grotesken Lächerlichkeit. Im Bürgermeister, diesem „Herrn Karl“ auf dem Lande, der sich sehr wohl jeder Schuld und Unterlassungschuld bewußt wird, sich von jeder losspricht und sich eine blütenweiße Unschuld errechnet, gelingt Kalmar eine Satire der kollektiven, bewußten Selbsttäuschung der Nachkriegszeit, die noch immer nicht vergangen ist. Das Grauen des Holocaust kann eine Abwehr auslösen, die das Wegschauen leicht macht, das Nichts-mehr-wissen-wollen, die ScheinImmunität des „Damit hatte ich nichts zu tun“. Kalmar schaltet solche Abwehrmechanismen ebenso aus wie das Alibi dörflicher Abgeschiedenheit zur Zeit des Naziterrors in den Städten. Er versetzt uns in den Provinzialismus des Bösen, in eine Alltäglichkeit, die vorstellbar ist und eine mögliche Wiederholung einschließt. Davor warnt Kalmar — vor allem die Jugend. Zeitgeschichtler, Politologen, Psychologen haben die Verfälschung des österreichischen Selbstverständnisses durch das „große Tabu“ wissenschaftlich nachgewiesen, die Flucht vor der Verantwortung — Fritz Kalmar hat sie in ein dichterisches Bild gebannt. Dieses Buch eines Vertriebenen, der seiner nie vergessenen Heimat ins Gewissen redet, verdient in dieser Heimat gelesen zu werden — von viclen. Und was fiir cin Filmstoff! Horst Jarka Fritz Kalmar: Das Wunder von Biittelsburg und andere Erzählungen. Wien: Ibera Verlag. 1999, 237 S. Schuld an zwei Bränden „Sind Sie ein Mensch mit Schamgefühl?“, wird Primo Levi gefragt, und er antwortet: „Ja, ja, ich glaube, das bin ich.“ — „Und hüten Sie Ihr eigenes Ich?“ — „Ja, ich hüte mein eigenes Ich.“ Ein poetischer (jedoch atypischer) Dialog aus dem von Marco Belpoliti herausgegebenen Bändchen „Gespräche und Interviews“. Weltbekannt wurde der italienische Autor und Chemiker (1919 — 1987) durch sein Auschwitz-Buch ,,Ist das ein Mensch?“ (1961), in dem der emotionslose Chronist sein zufälliges Überleben in einer lebensvernichtenden Maschinerie beschreibt. Dieser Bericht gilt seitdem als der Schlüssel für das Verständnis der inneren Logik eines Konzentrationslagers. Später folgte der autobiographische Roman „Das periodische System“ (1975), unerlässliches Handbuch für alle belletristisch interessierten Chemiker. 83