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Im vorliegenden Bändchen wird ein besonderer Mensch von bisher unbekannten Seiten beleuchtet. Neben Einblicken in seine Zeit in Auschwitz, die er ganz unzynisch als „Abenteuer“ und „Universität“ bezeichnet, erfährt man so manches über Schreibmethoden, über Levis Mißtrauen gegenüber jeglichem philosophischen Modell, über die „dumpfe Antipathie“, die er zeitlebens gegen Borges hegte, oder auch über seine Furcht vor monströsen literarischen Konzepten wie etwa Kafkas Meta-Realismus (dessen Prozeß er übersetzte). So ist jenseits von Fiktion und Dokumentation das Spiegelbild eines außergewöhnlichen Lebens entstanden. Bei aller Lust an ernster und unernster Plauderei wird deutlich, bis zu welchem Grad Primo Levi das Gespräch für eine vitale Methode der Wissensvermittlung gehalten hat — denn wenn dieser Mann eine Tätigkeit mit Leidenschaft betrieben hat, dann lebendiges Erzählen. Dabei kommt uns zugute, daß der Turiner Moralist in den letzten Jahren vor seinem Freitod zu einem gefragten Interviewpartner (meist) italienischer Massenmedien wurde. Neben aller intellektuellen Redlichkeit des Protagonisten macht die Frische der tagesjournalistischen Form diese Gespräche zu einem großen Vergnügen. Doch Primo Levi hat auch persönlich — offenbar genervt von sich wiederholenden Reportern — sieben ausführliche Antworten zu sieben Hauptfragen zusammengestellt: ideales Argumentationsbrevier für Nicht-Spezialisten mit dem Ehrgeiz, dumpfen KZ-Verharmlosungsmeinungen entgegenzutreten. Primo Levi zeigt sich in den Gesprächen nicht nur als Intellektueller von hervorragender Souveränität, der die Funktionsweise von Massenmedien entlarvt und mit ihren Schwächen spielt — in erster Linie spricht hier ein großer Mensch, und diese Tatsache wird an manchen Stellen besonders und gerade in den Details plastisch. Bewegend ist etwa, wie der Professor bei der Frage, ob er im Leben schwere Fehler begangen habe, um eine adäquate Antwort ringt: „Nein zu sagen käme mir sehr angeberhaft vor; aber mir fallen jetzt wirklich keine großen Fehler ein. Wer weiß, vielleicht habe ich sie nicht bemerkt ... Im Betrieb, ja, da habe ich viele Fehler gemacht, das stimmt, als ich Betriebsleiter war, habe ich unternehmerische Fehler gemacht, habe falsche Schritte unternommen, habe Dinge zugelassen, die nicht hätten getan werden dürfen, Leute eingestellt, die ich nicht hätte einstellen sollen, andere entlassen, die ich nicht entlassen durfte; ich bin Schuld an zwei Bränden, die aber keinen ernsthaften Schaden angerichtet haben, das sind Fehler.“ Martin Amanshauser Primo Levi: Gespräche und Interviews. Hg. von Marco Belpoliti. Aus dem Italienischen von Joachim Meinert. München, Wien: Edition Akzente Hanser 2000. 288 5. 84 „Was wird aus uns noch werden?“ Briefe der Lörracher Geschwister Grunkin aus dem Lager Gurs 1940-1942 In Briefen und Postkarten erzählen Menschen ihre eigene Geschichte und Geschichten. Was sie erzählen oder weglassen, unterliegt ihrer eigenen Auswahl. Die Schreibenden berichten von Träumen und Wünschen und bringen ihre Sorgen, Befürchtungen, Ängste und Albträume zu Papier. Sie beobachten und interpretieren ihre Umwelt und sind nicht an einer historischen Gesamtschau interessiert. Ihre Briefe lesen sich wie Tagebücher oder Chroniken. Kurz: Briefe sind aus dem Dasein entsprungene Quellen, die für sich selbst sprechen. Sie gewähren den Leserinnen und Lesern die Freiheit, sich ihre eigenen Gedanken zu machen. Die Lesenden werden zu „Voyeuren“. Im Falle des Schicksals der Geschwister Grunkin aus Lörrach — von dem 32 Karten und Briefe zeugen — zu einem voyeur of evil — einem Voyeur des Bösen (Louis Begley). Bis 1933 war fiir die Familie Grunkin die Welt in Ordnung. Die urspriinglich aus Russland stammende Familie blieb trotz der starken Integration ihren jiidischen Wurzeln treu. Mit der Machtergreifung Hitlers und der NSDAP wurden Ausgrenzung, Verfolgung, Zwangsarbeit, Vertreibung und Vernichtung auch zu den Koordinaten ihrer jiidischen Existenz. Das Ehepaar Wulf und Fanny Grunkin mit ihren Kindern Georg, Rosa, Josef und Marie waren erst 1919 eingebürgert worden und fielen unter das bereits im Juli 1933 erlassene „Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft“. Sie wurden staatenlos. Nach dem Tod von Wulf Grunkin, der im März 1934 nach schwerer Krankheit verstarb, wurde die berufliche und finanzielle Situation der Familienmitglieder immer prekärer. Die einzige Möglichkeit, den sich zunehmend verschlechternden Lebensumständen und dem Unheil zu entfliehen, war die Emigration aus Deutschland in die Schweiz. Doch wie sollte dies geschehen? Georg, der älteste Sohn, war der Erste, dem am 3. Oktober 1935 die Flucht über die Grüne Grenze in die Schweiz gelang, wo er Aufnahme fand, obschon das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) bereits im März 1933 die Kantone angewiesen hatte, bei der Zuwanderung von „Israeliten“ grösste Zurückhaltung zu üben und mit allen Mittel einen dauernden Aufenthalt zu verhindern resp. die Weiterreise der Flüchtlinge zu fördern. Entscheidend für die Erteilung der Toleranzbewilligung war aber wohl die Tatsache, dass er den Schweizer Behörden glaubhaft seine Pläne zur Weiterwanderung darlegen konnte. Georg Grunkin wanderte am 13. Februar 1936 nach Paraguay aus und befand sich in Sicherheit. Den übrigen Familienmitgliedern war die Ausreise in die Schweiz, trotz mehrfachen Gesuchen und Wiedererwägungsanträgen, verweigert worden. Hier zeigt sich die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit Schweizerischer Flüchtlingspolitik, welche einige Mitglieder der Familie rettete, den anderen aber kategorisch jede Hilfe verweigerte: Im Frühjahr 1938 heiratete Rosa Grunkin den Schweizer Paul Schäublin und lebte in Riehen, das direkt an der Schweizergrenze zu Deutschland liegt. Obwohl sie nur wenige Kilometer von ihren übrigen Familienmitgliedern trennten, wurde der Kontakt über die Grenze immer schwieriger. Nach der „Reichspogromnacht“ vom 9./10. November 1938 gab es für sie und ihren Gatten keinen Zweifel mehr daran, dass sich ihre Angehörigen in grösster Gefahr befanden. Sie setzte alle Hebel in Bewegung, um ihre Mutter und ihre beiden Geschwister Marie und Josef in die Schweiz holen zu können. Vergebens! Die Eidgenössische Fremdenpolizei berief sich immer wieder auf die „Überfremdung“, machte geltend, dass die Weiterreise nicht gesichert und der Existenznachweis ungenügend sei. Nach längerem Bemühen erhielt am 30. Mai 1939 die Mutter, Fanny Grunkin, als einzige die Einreisebewilligung in die Schweiz. Doch sie weigerte sich, von der Einreisebewilligung Gebrauch zu machen. Später schrieb Josef an seine Schwester in die Schweiz: „In die Schweiz geht Mutter auch nicht, hier bleiben will sie auch nicht, mit uns gehen will sie auch nicht, aber eine andere Möglichkeit sehe ich auch nicht, aber so weitergehen kann es erst recht nicht.“ Das Unheil brach am 22. Oktober 1940 völlig unerwartet über die 6.500 Jüdinnen und Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland herein. Ihre Deportation in das Internierungslager Gurs am Fusse der Pyrenäen war im Geheimen und bereits lange im voraus von den Behörden minuziös vorbereitet worden. Ihr gesamtes Vermögen, Hab und Gut wurde beschlagnahmt und fiel dem Land Baden zu. Unter den Deportierten befanden sich die Geschwister Marie und Josef Grunkin, 27 und 31 Jahre alt, zusammen mit ihrer Mutter Fanny. Das Camp de Gurs war das erste und eines der grossen Internierungslager in Frankreich. Es wurde im April 1939, zur Zeit des Zusammenbruchs der spanischen Republik, errichtet. Die ersten Gefangenen waren hauptsächlich republikanische spanische Soldaten und Interbrigadisten, die nach Francos Sieg nach Frankreich geflohen waren. Vier Monate nach der französischen Kapitulation liess die deutsche Regierung unter Missachtung des Waffenstillstandsabkommens mit Frankreich vom 22. bis 25. Oktober 1940 die gesamte jüdische Bevölkerung aus Baden und der Pfalz sowie aus einigen Orten Württembergs nach Gurs deportieren. Das Lager war ständig überfüllt. Die sanitären Einrichtungen waren primitiv, es gab zu wenig Wasser und die Gefangenen hungerten ständig. Alleine im Winter 1940/41 starben 800 Gefangene an Epidemien wie Typhus und Ruhr. Die Vertriebenen wurden fast zwei Jahre lang festgehalten, nur wenige konnten das Lager verlassen.