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„Iräumt der alte Antonio, daß die Erde, die er bearbeitet, ihm gehöre, daß sein Schweiß bezahlt wäre mit Gerechtigkeit und Würde, träumt, daß es Schulen gibt, um die Unwissenheit zu heilen, und Medikamente, um den Tod zu vertreiben, träumt, daß sein Haus sich erhellt und sein Tisch sich füllt, träumt, daß sein Land frei ist, und es das Recht seiner Leute ist, zu regieren und regiert zu werden, träumt, daß er in Frieden sei, mit sich selber und der Welt. Träumt Antonio, daß man kämpfen muß, um diesen Traum zu haben, daß es Tod geben muß, damit es Leben gibt.“ In diesem Land träumen alle. Jetzt ist es an der Zeit, zu erwachen. Der Marsch der indigenen Würde hat in Mexiko einem Erdbeben gleich eine Erschütterung ausgelöst, ein Rütteln an den Grundfesten des öffentlichen mexikanischen Bildes von den Indios, den Vergessenen Mexikos, ein Bild, das, zusammengesetzt aus Vorurteilen, verfälschter und mangelhafter Informationen bis zur Nichtinformation, die Fragen aufwarf: Was sie, die Zapatistas, und sie, die Indios, wollen, und wer sie eigentlich sind. Zwei Wochen waren sie durch 12 der 32 Bundesstaaten Mexikos gezogen, 20 Männer und vier Frauen, ausgewählte Mitglieder des Comité Clandestino Revolucionario, hinter wollenen, schimützenartigen „Pasamontanas”, schwarzen und dunklen Masken, ihrem Symbol der Farbe der Erde, um die von Seiten der Regierung lahmgelegten Friedensgespräche wieder in Gang zu bringen, falls die drei Zeichen (Freilassung der politischen Gefangenen der Zapatisten, Auflösung von sieben Militärstützpunkten, Einhaltung der Verträge von San Andres) von der Regierung Fox erfüllt würden. Ihr Ziel: Ratifizierung der 1996 beschlossenen Verträge von San Andres durch den mexikanischen Kongreß. Ihre Forderung: Anerkennung der indigenen Grundrechte und Aufnahme der Selbstbestimmungsrechte in die Verfassung, darunter das Recht auf die Wahl von Gemeinderäten nach indigener Tradition, Anerkennung eigener Rechtsnormen, Neubildung indigener Kommunen, Bau von Schulen und Kliniken, ausreichend Medikamente, die kollektive Nutzung der Bodenschätze sowie eigene Medienorgane. Karawane Zwei Wochen zieht also das Comité Clandestion Revolucionario, begleitet von ca. 2.000 Menschen aus aller Welt, durch Mexiko, um in Reden und blumenreichen Gesten der Bevölkerung sein Anliegen vorzubringen. Überfüllte Stadtplätze, Menschen in Bäumen, Menschenmassen am Straßenrand, jubelnd, schreiend, Essen in Busse reichend. Ein Spektakel ihr Auftritt: Blumenkränze, indianische Riten, Kerzen. Steife Reden neben poetischen indigenen Erzählungen. Symbolträchtige Händereichungen, Liebesbriefe an „Marcos”, schreiende, fahnenwinkende Menschen. Wartende Mengen, eisschleckende Familien, Straßenverkäufer, Schuhputzer. Hausfrauen, Geschäftsleute, Kids. Journalisten, Intellektuelle, Künstler, Leute vom Film. Leader oder Interpret Die Figur des „Marcos“ ist nach eigenen Angaben erst 1994 entstanden, als bei der Einnahme San Cristobal, der einzigen und letzten militärischen Aktion, ein französischer Tourist ein Foto schießt, und „Marcos“ nach seinem Namen fragt. „Marcose“ hat es und wird es weiter geben. Weil sein Spanisch besser als das der Indigenas gewesen wäre, beginnt er, die Fragen der Journalisten zu beantworten. Wird Interpret, Mund der Zapatisten. Die Medien stürzen sich auf ihn, ein Medienkampf, Fox gegen Marcos. Spielball der Medien, von denen er gleichzeitig profitiert: Starallüre. Er wird als Nachfolger Che’s gefeiert, mit Zapata verglichen. Am meisten umjubelt ihn die Jugend. Er wird zum Auffangnetz ihrer Projektionen, Ideale, Idealvorstellungen. Hilfestellung auf Suche nach Sinnvorgaben (für die es sich zu leben lohne). Zur Hoffnung derer, die von Veränderung träumen, einer neuen Welt (Che’s Grundsatz: wir sind Träumer, deswegen unbesiegbar). Die Faszination: ein grundlegend anderes Politikverständnis. Basis-Demokratie. Forderung nach einer politischen Ethik. Deren Grundlage: Gerechtigkeit. Todos somos Marcos Sind die Forderungen der Zapatisten mit der Lehre Jesu vergleichbar? Die Zapatisten fordern Gleichheit, Anerkennung. Keinen Unterschied mehr zwischen/ keine Grenzen zwischen Hautfarben, sexuellen Lebensformen, materieller Begüterung, Bildungsniveau. Frühchristlich daran: der Mensch wird um seinetwillen geliebt. Kampf um Würde. Befreiung zum Mensch-Sein. Verantwortlichkeit gegenüber dem anderen. Die Figur „Marcos“ als Symbol einer geglückten Nächstenbeziehung in Freiheit, Würde, Anerkennung? Alle, sagen sie, sind wir Marcos. Maskiert. Demaskiert Erst, als wir uns maskierten, wolltet ihr wissen, wer wir sind. Schreibt Marcos. Maske als Schutz. Wer sich maskiert, hätte etwas zu verstecken. Maske als Spiegel. Der, der in die Maske blickt, sieht in ein Loch, das zum Spiegel wird, in dem er eigene Vorstellungen wiederfindet. Die Leere, auf die der Betrachter stößt, wird zurückreflektiert. Er sieht seine eigene Leere. Trifft auf seine eigenen Erwartungen. Mythos Marcos, Spiegeleffekt: Ihr seht nicht mich, sagt Marcos, ihr seht euch. Marcos existiert nicht! Er ist nur der Rahmen für ein Fenster, in das ihr hineinschauen sollt. Wir sind ihr! Ich bin du! David. Goliath Die Würde des Menschen hängt nicht von seinem Wissenstand, sondern von der Größe seiner Menschlichkeit ab. In inhumanen Zuständen, wo Bildung kaum zugelassen wird, der Mensch unter- oder mangelernährt ist, heilbaren Krankheiten erliegt, kann sich der Mensch nicht entfalten. Um sich gegen die Mißstände zu wehren, muß er zum Bewußtsein seiner