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Situation und zu dem Bewußtsein ihrer Veränderbarkeit gelangen. Selbstbewußtsein: die Frage nach dem, wer wir sind, von wo wir kommen, eröffnet sich ihm in der Geschichte. Die Geschichte ist für die indigenen Völker wie ein Baum. Die Wurzeln, der Stamm, die Zweige, die Äste. Die Blüten. Die Erfahrungen und die Erzählungen ihrer Vorfahren. Durch die Erinnerung an eine Zeit, in der sie noch nicht unterdrückt, Blütezeit der Mayakultur, und durch das gemeinsame Bahnen eines Weges, durch die Hoffnung, die er in sich trägt, wird der Schwache gestärkt. Der Schwache besiegt den Mächtigen. Und hilft ihm zu seiner inneren Befreiung. Indigena-Sein heißt in Mexiko, unterdrückt, gedemütigt, ausgelacht zu werden, wegen der Hautfarbe von vornherein als minderwertig betrachtet zu werden. Die Produkte müssen billiger verkauft werden, die Möglichkeit auf eine grundlegende Aus- oder Weiterbildung ist gering. Es mangelt an Schulen, Ärzten und Medikamenten. In den Dörfern heiratet man im Alter von 15, 16, 17 Jahren. Acht bis zehn Kinder ist der Durchschnitt. Die Männer bearbeiten das Feld, während die Frauen fast ausschließlich für die Hausarbeit zuständig und zudem auf dem Feld arbeiten. Angebaut werden meistens nur Mais und Bohnen, in manchen Gebieten auch Kaffee. Wegen der fehlenden Widerstandskräfte und der fehlenden Medikamente sterben viele Kinder an heilbaren Krankheiten. Die Kindersterblichkeitsrate ist in Chiapas am höchsten von ganz Mexiko. Nada para nosotros 1994. Nach der Einnahme von San Cristobal, ca. zweiwöchigen Kämpfen in Ocosingo, Toten auf Seiten der Zapatisten und auf Seiten der Polizei, fordert die Regierung Waffenstillstand und erkennt die Zapatisten somit als militärische Gruppierung an. Es kommt zu Friedensgesprächen mit Samuel Ruiz, beide Seiten, die Regierung Zedillos und die Zapatisten, laden Experten ein, im weiteren Laufe werden die Verträge von San Andres ausgearbeitet. Zum letzten Tisch kommen keine Vertreter der Regierungsseite mehr, die Gespräche werden von der PRI-Regierung unter Präsident Zedillo abgewürgt. Die Verträge werden nicht ratifiziert. 1994-2001: Chiapas gleicht einem Militärschauplatz. 70.000 stationierte Soldaten, kein einziger Soldat verläßt Chiapas. Die sieben Militärcamps wurden zwar aufgelöst, die Soldaten wurden aber einfach in andere Camps verlegt. Sie belästigen die Bevölkerung, indem sie immer wieder Dörfer umstellen, zwei Tage lang wird die Bevölkerung im Glauben gelassen, jede Minute angegriffen zu werden, Frauen werden sexuell belästigt, junge Mädchen arbeiten als Prostituierte für die Soldaten, um das karge Einkommen ihrer Familie aufzubessern, infizieren sich mit Aids, werden schwanger, Soldaten werben um die Gunst der Kinder und Jugendlichen mit Süßigkeiten, spielen mit ihnen, für viele Jugendliche werden sie zu neuen Vorbildern. Äcker werden verwüstet, Helikopter umkreisen tagelang Felder, um die Bauern am Arbeiten zu hindern, Güter wie Geflügel, die zum Markt transportiert werden, werden von den Soldaten abgefangen. Gespaltene Dörfer. Aggression innerhalb der Gemeinschaft steigt. Leute verschwinden. Ganze Dörfer müssen fliehen. Flüchtlingsdörfer werden errichtet. Nahrungsknappheit. Tote. Im Fachjargon: Krieg von niedriger Intensität. Waffen werden Worte. Worte werden Schwerter. Die Sprache der Zapatisten ist eine einfache, poetische Sprache. Weil es Poesie ist, die die Tore der Welt öffnet. Eine Revolution lasse sich nie für das Volk sondern nur mit dem Volk herbeiführen, deswegen müsse man sich dem Volk verständlich machen, mit dem Volk verständigen. Revolution der Kommunikation. Ein Guerilla-Kampf, der mit Wörtern geführt wird. Tanz der Zapatisten Die indigene Vorstellungswelt, Vorstellungswelt des Popul Vuh. Zeit ist kreisförmig, unbegrenzt. In der Zeit sind ihre Grenzen aufgehoben. Vergangenheit ist gegenwärtig. Wenn Indigenas von Vergangenem erzählen, erzählen sie es so, als wäre es gestern passiert. Zahlensymbolik, sieben und zwölf: Die Zapatisten fordern die Auflösung von sieben Militärcamps, durchreisen zwölf Bundesstaaten. Der Marsch der 111.111. Der Mensch erfährt sich als Teil der Natur. Die Natur, die ihm Leben schafft. Die Farbe der Erde. Die Sprache der Farben. Die Sprache des Schweigens, des Feuers, des Staunens. Feuer ist alles, durchdringt alles. Reinigt alles und löscht alles aus. Tanzende Flammen. Die Zapatisten feiern gerne. In San Cristobal tanzen Hunderte vermummte Gestalten. Junge kämpft gegen Löwen. In einer Geschichte erzählt der Alte Antonio, wie ein Junge gegen einen Löwen kämpft. Er mischt ihm Spiegelsplitter in sein Fleisch, woran sich der Löwe den Hals zerschneidet und stirbt. Innerlich verblutet.