Die Konfrontation mit Fritz’ Judentum, mit dem verschwun¬
denen österreichischen Judentum war immer gegenwärtig. So
in dem Gedicht „In einem Hinterhaus“ (Flügelschläge, S. 45).
Die kleine Synagoge
wurde ein Strickwarenlager.
Wenigstens blieb sie unversehrt.
Jemand fragt, was ich will.
Die Leute sind so beschäftigt.
Sie schleppen schwere Ballen
durch die Eingangstür.
Ich stehe ihnen im Weg,
ein harmloser Müßiggänger
an einem verregneten Tag.
Wien war mein erstes Zusammentreffen mit all den Personen,
die für mich seit 1939 rein abstrakt existiert hatten. Wien war
neu und ungeheuer wichtig. Fritz’ Freundschaften aus der
Vorkriegszeit hatten die schweren Jahre überstanden. Der ur¬
typische Wiener Rudolf Felmayer, seinerzeit der Prototyp des
„armen Poeten“, war jetzt ein hoher städtischer Beamter, ver¬
heiratet mit einer zum Katholizismus übergetretenen Jüdin, die
Auschwitz überlebt hatte. Er, als erster, bemühte sich erfolg¬
reich um die Veröffentlichung von Bergammers Lyrik. Schon
1955 war bei Kurt Desch der Band Von Mensch zu Mensch er¬
schienen. Da war auch der rührige Freund Johann Gunert, ein
bewährter Anti-Nazi, auch er in der Verwaltung der Stadt Wien
tätig. Durch einen Unfall war er einarmig. Nicht unerwähnt
darf ich lassen, daß alle die Freunde in der Zwischenzeit den
Ehrentitel „Professor“ trugen.
Am wichtigsten für unser beider Leben war das Wieder¬
sehen — fiir mich das erste Treffen — mit Ernst Schönwiese.
Dieser unbeschreiblich eindrucksvolle Mensch nahm Fritz un¬
ter seine Fittiche. Er war Programmdirektor beim österreichi¬
schen Rundfunk. Neben Felmayer war er für die Veröffentli¬
chung von Bergammers Arbeiten zu dessen Lebzeiten und weit
darüber hinaus tätig. Wenn es je so etwas wie eine Freund¬
schaft fürs Leben gab, so war es die zwischen Schönwiese und
Bergammer.
Um den bayerischen Schriftsteller Oskar Maria Graf hatte
sich in New York schon während des Krieges ein Stammtisch
gebildet. Jeden Mittwochabend trafen sich eine Anzahl
Freunde, teils selbst Schriftsteller, teils an Kunst und Literatur
interessierte Männer und Frauen in einem deutschen oder öster¬
reichischen Restaurant. Fritz gehörte nicht von Anfang an zu
dieser Gruppe. In den fünziger Jahren war er aber schon ein re¬
gelmäßiger Teilnehmer. Auch nach Grafs Tod traf sich die
Tischrunde weiter jeden Mittwoch. Mitbegründer wie Harry
Asher, Fenya Ginsberg und Gisela Graf sind heute noch
„Mitglieder“. Zu Grafs Zeiten war der Stammtisch auch ein
Treffpunkt für deutsche und österreichische Schriftsteller, die zu
Besuch in New York weilten. Fritz lernte seine liebste „ameri¬
kanische“ Freundin, Ingeborg Kreck (später Lehmann-Haupt),
an einem solchen Mittwoch kennen. Noch heute trifft man sich
jeden Mittwoch, und zwar in meiner Wohnung. Literatur ist
nicht mehr das Hauptthema, sondern mehr die Kunst im allge¬
meinen. Um die wenigen Stammtischler aus der Oskar Maria
Graf-Zeit hat sich eine neue Gruppe gebildet, belebt durch eine
ganze Anzahl junger Deutscher und Österreicher.
Nach vielen Jahren in der kleinen Wohnung in Washington
Heights zogen Fritz und ich in eine moderne Wohnung auf die
Oststeite Manhattans, in das Haus, in dem meine Mutter lebte.
Zehn Jahre vergingen bis wir wieder nach Europa fliegen
konnten. Ernst Schönwiese und seine Frau hatten sich im
Burgenland angesiedelt. Ein Teil des Hauses war für uns da.
Wir erreichten unser Quartier mittels separater Treppe, der so¬
genannten „Bergammer-Stiege“. Einige Tage verbrachten wir
in Wien. Diesmal konnte Fritz auch die Freundschaft mit
Hermann Hakel erneuern. Dieser schwierige, aber interessan¬
te Wiener Jude hatte den Krieg in Italien überlebt und wohnte
nach einem kurzen Aufenthalt in Israel wieder in Wien. Er hat¬
te seine alte Mutter bei sich, aber in seinem Studio in der
Innenstadt war er Lehrmeister für eine ganze Anzahl junger
Menschen. Er, der schriftstellerisch und als Herausgeber der
Zeitschrift Lynkeus sehr aktiv war, war wohl ein typischer
Wiener Intellektueller, Quärulant und Sonderling, als der er
sich gab.
Unser „Zuhause“ war jetzt in Stuben im Burgenland und
sollte es für viele Jahre bleiben. Wir verbrachten fast alle un¬
sere Ferien dort. Ernst Schönwiese arbeitete mit Fritz bis spät
in die Nacht an einem neuen Buch. Tagsüber fuhren wir im
Burgenland herum, nach Eisenstadt, an den Neusiedlersee, an
die ungarische und jugoslawische Grenze, nicht allein wegen
der schönen Landschaft, sondern ebenso wegen des guten
Weins und Essens. Viele Gedichte entstanden in diesen Jahren.
Ich erinnere mich nicht mehr, in welchem Jahre wir nach
Goisern im Salzkammergut fuhren, um Jean Am£ry, einen an¬
deren Jugendfreund, zu treffen. Hans Mayer, wie sein ur¬
sprünglicher Name lautete, Sohn eines jüdischen Vaters und
einer katholischen Mutter, als Katholik aufgewachsen, arbei¬
tete als junger Bursche in der Bibliothek eines Volksheims.
Ursprünglich rechtsgerichteter als seine Freunde, die meist
Sozialisten waren, wurde Améry nach vielen Schreckensjahren
(Folter, KZ) Kommunist. Zur Zeit unseres Treffens war er von
allen politischen Parteien enttäuscht. Er war Schriftsteller,
Essayist und eine bekannte Fernsehpersönlichkeit geworden.
Ich erinnere mich an den schlanken Mann mit den unglaublich
blauen Augen, der uns mit seinem Auto abholte. An ihn wen¬
det sich Fritz in seinem Gedicht „Der Augenblick“ (Vorletzte
Stummheit, S. 40):
Freund,
wie hast du die Hinrichtung überstanden,
den Augenblick,
den ich mir nicht vorstellen kann,
da die Gewehrläufe auf dich gerichtet waren?
Eingeschüchtert
frage ich dich,
ob dir dein Tod
vorstellbarer war
als dein Sterben?
Mehrere Sommer hindurch gab uns Hertie Fisher den Schlüs¬
sel zu ihrer kleinen Wiener Wohnung. Der Blick von ihrem
Balkon erinnerte uns an ein Stifter-Aquarell. Einen Ausdruck
von Fritz habe ich nicht vergessen. Ich zitiere: „Ich möchte
wieder so in Wien zu Hause sein, daß ich im Autobus die
Zeitung lesen kann statt herauszuschauen.“
Fritz’ Stellung zum Judentum wie auch zur Religion im all¬
gemeinen war zwiespältig. Obwohl er aus einer konservativ-jü¬
dischen (allerdings nicht im ethnischen Sinn) Familie stammte,
bezeichnete er sich selbst zwar als religiös, aber nicht konfes¬
sionell gebunden. Er war bibelfest im Alten wie im Neuen