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Modell — der keynesianischen Staatsintervention als Bereitstellung von Infrastruktur und deren Funktion als Arbeitsbeschaffungsprogramm nachgebildet. Die gesamte Tätigkeit von „Homo faber“‘ — Personifikation des Herstellens — bestehe darin, „Maßstäbe anzuwenden und Meßbarkeit jeglicher Art in das ‚Chaos‘ zu tragen (...).“ (Vita Activa. 6. Aufl. München-Zürich 1989, S.154) Mit diesem Chaos meint Arendt offenkundig das Marktgeschehen, denn der Maßstab des Herstellens soll über dem des Geldes stehen, so wie sich die Geldpolitik im Keynesianismus tiber den Markt hinwegsetzt — Herstellen ist deficit spending: ,,das Geld, das ja offensichtlich als eine Art von Maßstab für die Bewertung der Dinge im Austausch dient, ist natürlich selber eine Ware, bzw. ‚Wert‘, und besitzt in keiner Weise die objektive Eigenständigkeit, die dem Maßstab zukommt, der alles, womit er in Berührung kommt, prinzipiell übersteigt und überdauert (...).“ (S.154) Über Franklin D. Roosevelt selbst und den Keynesiansmus hat Hannah Arendt in etwa sowenig publiziert wie Heidegger über Hitler und den Faschismus: es handelt sich in beiden Fällen eher um unbewußte, verdrängte oder verborgene Referenzpunkte des Denkens. Bereits sehr früh kritisierte Arendt allerdings den Wohlfahrtsstaat, soweit er jene politische Perspektive des „Handelns“ verlor, die noch der Kampf gegen Hitler geboten hatte. Es handle sich hier um das Projekt, „Handeln durch Herstellen zu ersetzen“, eine „Degradierung der Politik zu einem Mittel für die Erreichung eines höheren, jenseits des Politischen gelegenen Zwecks“ — und zwar „der Produktivität und des Fortschritts der Gesellschaft“. So sieht die Philosophin das Handeln unter die Räder kommen. Aber auch Homo faber wird geschlagen: Hannah Arendt prophezeit den „Sieg des animal laborans“ — und nimmt den Begriff wörtlich, wenn sie von „Gefahrensignalen“ dafür spricht, „daß der Mensch sich anschicken könnte, sich in die Tiergattung zu verwandeln, von der er seit Darwin abzustammen meint.“ (S.315) Alles Seiende droht sich in die Funktion eines subjektlosen Prozesses zu verwandeln. „Damit verschwindet die letzte Spur von Handeln aus dem Tun der Menschen, nämlich die Triebfeder, die immerhin noch in den egoistischen Interessen am Werke ist. Was nun übrig bleibt, ist in der Tat eine ‚Naturkraft‘“ (S.313) Hannah Arendt hütet sich bei dieser Naturkraft vom „Sein“ zu sprechen: Was sie düster prophezeit, ist aber nichts anderes als die Verwirklichung von Heideggers Spätphilosophie. Herbert Marcuse wiederum hat etwa zur selben Zeit versucht, diese Philosophie als Theorie des „eindimensionalen Menschen“ den Begriffen von Marx zu unterwerfen. Während Heidegger gegen die Technik im Namen des Seins auftritt, zielt Marcuses Kritik — eine Parallele zum „Sieg des animal laborans‘ — auf die Identität der Technik mit einem Sein, das unwahr ist. Ein wahres wäre in der Revolution erst zu erringen. Läßt Marcuse sich allerdings dazu hinreißen, es zu entwerfen, setzt auch bei ihm die Ontologisierung wieder ein, und sein Vernunftbegriff nähert sich dem des Arendtschen homo faber. (Der eindimensionale Mensch. [1964] Neuwied-Berlin 1977, S.168-173 u. 245-268) 38 Zur Auseinandersetzung Arendts mit Heidegger vgl. Gerhard Scheit: Immer das Selbe. In: konkret 10/1999, S.60-64 39 Brief an Hannah Arendt vom 12.4.1968. Arendt/Heidegger, Briefe, S.167 40 Brief an Hannah Arendt vom 12.4.1950. Arendt/Heidegger, Briefe, S.94 41 Martin Heidegger: Der Spruch des Anaximander. [1946] Holzwege, S.364. Dabei handelt es sich keineswegs um eine „Vergeßlichkeit des Denkens“, vielmehr gehört es zum Wesen des Seins selbst, daß es vergessen wird: „Die Vergessenheit des Seins gehört in das durch sie selbst verhüllte Wesen des Seins.“ (Ebd.) So wird alles affirmiert: die Voraussetzungen der Krise ebenso wie jede Form ihrer Bewältigung. 42 Adorno hat auf Heideggers „Sein“ reagiert, wie Hegel auf Fichtes „Ich“: „Kein Sein ohne Seiendes.“ (Adorno, Negative Dialektik, S.139) 43 Brief an Hannah Arendt vom 15.9.1950. Arendt/Heidegger, Briefe, S.117 44 Brief an Hannah Arendt vom 21.4.1954. Arendt/Heidegger, Briefe, S.144 45 Diese jüngste Bewegung der Heidegger-Rezeption, die dem Meisterdenker der Krise in einer neuen Sprache aber mit weniger Vorbehalten denn je entgegenkommt, mußte zunächst die Sartresche Humanisierung Heideggers beiseite räumen und konnte in diesem Zusammenhang das Mißverständnis aufdecken, das einst den französischen Existentialismus aus der deutschen Existenzphilosophie hervorgehen ließ: Sartre hatte — hier der Entwicklung von Hannah Arendts Philosophie ähnlich — Heideggers Begriff vom Dasein mit „realit@ humaine“, menschlicher Wirklichkeit, übersetzt (L’existentialisme est un humanisme. [1946] Paris 1970, S.17) und von der Seinsfrage abgetrennt. Heideggers doppelbödiges Diktum „Mit dem Sein ist es nichts“ wird zur eindeutigen Bestimmung der menschlichen Wirklichkeit. Im Gegensatz zu einem Sein, das mit sich selbst identisch ist, muß der Mensch sich immer in Frage stellen, zum Nichtidentischen, zur Freiheit verurteilt — er kann auch im Freisein zum Tod die Gunst des Identisch-Seins nicht gewinnen. (Das ist die Perspektive eines von den Deutschen besetzten Landes.) So erscheint bei Sartre das „Nichts“, dem der Mensch auf diese Weise ausgeliefert ist, als Bedingung der Möglichkeit von Moral. Die „menschliche Wirklichkeit‘ ist damit von wahnhafter völkischer Konkretion freigesetzt, aber auch der radikalen Kritik des Staats enthoben und erinnert in ihrer Abstraktheit tatsächlich an die Kantsche Formalisierung im Moralischen. In seinem Brief an Jean Beaufret, der 1947 unter dem Titel Über den Humanismus erschien, wandte sich Heidegger gegen eine solche Interpretation seiner Begriffe. Und von dieser Klarstellung ausgehend, erledigten einige linke wie rechte französische Intellektuelle (zu ihnen zählte übrigens auch Althusser) die Entsorgung des Sartreschen Humanismus, sobald die Zeit dafür reif war. Derrida bezeichnete die Übersetzung des Heideggerschen „Daseins“ in „menschliche Wirklichkeit“ als „monströs“ und rückte ganz im Sinne Heideggers zurecht, daß „das Denken des Eigentlichen des Menschen untrennbar von der Frage oder der Wahrheit des Seins ist.“ (Fines hominis. In: J. D.: Randgänge der Philosophie. Wien 1988, S.123 u. 131) Auf eine ältere Quelle von Heideggers Einfluß in Frankreich hat Robert Bösch aufmerksam gemacht: Alexandre Kojeves Vorlesungen aus den dreißiger Jahren, die u.a. von Maurice Merleau-Ponty, Georges Bataille und Jacques Lacan besucht wurden. (R.B.: Über eine Theorie des Mangels. In: Krisis 21-22/1998, S.137-191) 46 Brief an Hannah Arendt vom 15.12.1952. Arendt/Heidegger, Briefe, S.137f. 47 Brief an Hannah Arendt vom 17.9.1974. Arendt/Heidegger, Briefe, S.251 48 Martin Heidegger: Über den Humanismus. [1947] 9. Aufl. Frankfurt am Main 1991, S.29 49 Ebd. S.10 50 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S.338 51 Georg Lukäcs zitiert am Ende seines Buchs über die Zerstörung der Vernunft Heideggers zahllose Fragen aus dem Nachwort zur vierten Auflage von Was ist Metaphysik? „Sind wir Heutigen bereits abendländisch in einem Sinne, der durch unseren Übergang in die Weltnacht erst aufgeht? (...) Sind wir die Spätlinge, die wir sind? Aber sind wir zugleich auch die Vorzeitigen der Frühe eines ganz anderen Weltalters, das unsere heutigen historischen Vorstellungen von der Geschichte hinter sich gelassen hat?“ — und er setzt in Klammern hinzu: „Freilich, wenn eventuell ein deutscher Imperialismus sich selbständig macht und wieder die Weltmacht anstrebt, können diese Worte Heideggers auch für ihn als ‚Prophetie‘ geltend gemacht werden.“ (Lukäcs, Zerstörung der Vernunft, S.660f.) Romanistik im Nationalsozialismus Bis zum 12. Oktober ist die Ausstellung „Die Wiener Romanistik und der Totalitarismus“ in der Fachbibliothek für Romanistik in Wien zu sehen (Universitätscampus Altes AKH, 1010 Wien, Garnisongasse 13, Hof 8; Mo. und Mi. 9-13 Uhr, Di., Do., Fr. 12.30-16 Uhr). Gezeigt werden Texte, Bilder, Bücher, Videofilme. Den InitiatorInnen geht es um eine Auseinandersetzung in Geschichte und Gegenwart mit Diktatur, Faschismus und Rassismus. Bei der Eröffnung am 7. Juni sprachen Marie-Thérése Kerschbaumer, Fritz Peter Kirsch, Siegfried Loewe und Robert Tanzmeister. 19