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Was ist bemerkenswert am Werk der Anna Mitgutsch, so bemerkenswert, sie in die Reihe jener holen zu wollen, deren Arbeit für die Zeitgenossenschaft so wichtig und für die Kollegenschaft so beispielgebend, daß diese öffentliche Anerkennung mit bleibender Symbolik richtig ist. Dem Rassenwahn der Nazi und ihren Verbrechen ist geschuldet, daß die Betrachtung der Kunst nicht nur die Jahre 1933 bis 1938 sondern ein weiteres halbes Jahrhundert Kalten Krieg und die verlogensten Verdrehungen der Rezeption durchleben mußte. Nicht nur die Künstler, auch die Kenner der Kunst sind verfolgt, verbannt oder vernichtet worden. Das Schweigen, dieses Anknüpfen ohne weiteres deckte die dreistesten Umkehrungen zu und begünstigte die Ausblendung ganzer Strömungen kritischer Literatur und figurativer Kunst. Man darf nicht vergessen oder möge sich daran erinnern, daß jede Kunstrichtung an eine Tradition knüpft. Der Beginn aus dem Nichts in der Kunst aber ist eine ebensolche Lüge wie das Schlagwort von der Stunde Null von 1945. Hier liegen wir Literaten im Staub. Die Literatur des sich klein nennenden und klein machenden Österreich hat es nicht leicht gehabt nach dem Zweiten Weltkrieg. Probleme, wie sie Heinrich Mann literarisch und essayistisch vorwegnahm, die Macht der Presse, die Verschwörung der Waffenschieber, sind in der Gegenwart geradezu unbeschreibbar geworden. Die Fülle der Mitteilung hat die Wahrnehmung der Menschen nicht verfeinert, sondern abgestumpft. Selbst in aufgeklärten Zirkeln steht die Frauenfrage merkwürdigen Widersprüchen und Mißverständnissen gegenüber. Die Zeit bewegt sich in Sprüngen und bleibt doch stehn, vom Staub des Überflusses sinnentleerter Partikel bedeckt. Hier graben Literatinnen wie Anna Mitgutsch mit bloßen Händen nach dem Warum und Weshalb, um zugleich das Wie und das Was zu ergründen, und das Wo und Wohin. Ich rede von der Mühsal der Aufarbeitung weiblicher Historie in allen Richtungen der Windrose, im Paradoxon der Gleichzeitigkeit von Amnesie der Vielen und Apperzeptionsverweigerung der Wenigen. Die Weltoffenheit der Anna Mitgutsch, fundiert in einer Universitätskarriere als lehrende Anglistin, kommt in ihren Romanen weiblicher Rivalitäten und Ratlosigkeiten ungeordneter, zwischen den Identitäten oszillierender Lebensläufe zum Tragen: Zwischen den Sprachen Englisch und Deutsch, zwischen den Kontinenten Amerika und Europa, zwischen den Zusammenhängen und Aporien Familie und/oder Beruf, Gesundheit und Behinderung, zwischen Judentum, Christentum, Emigration und — hier werden meine Doubletten ungenau, sagen wir Bleiben, Tat oder Untat, Schuld oder Tod. Diese Ungenauigkeiten, will sagen Aporien literarisch zu gestalten, den Zwischentönen Ausdruck zu verleihen, die abgestumpfte Wahrnehmung zu schärfen, verstoßene Themen aufzugreifen, unbequeme Zusammenhänge darzulegen, dem modischen Hauptstrom der Meinung eine andere Sicht, dem restringierten Code der Gazetten die elaborierte Sprache der Literatur entgegenzusetzen: dieses ist die vielleicht vergebliche, also Sysiphusarbeit der Literaten unserer Zeit. 20 Weil Anna Mitgutsch die österreichische Kleinstadt kennt und beschreibt, und weil sie die einzelnen und zugleich allgemein gültigen Schicksale heutiger Menschen in unserer von Flügen umkreisten und Fluchten durchfurchten Welt mit deren auch im Südosten verwurzelten Vorfahren thematisiert, ist sie eine zutiefst österreichische Autorin von internationalem Rang. Ihre Mittlerfunktion der unterschiedlichen Wahrnehmungen ist außergewöhnlich. Die packende Darstellung der Wirklichkeit im heutigen Jerusalem vor der Tiefenstruktur der über die Grenzen des heutigen Österreich in die angrenzenden Länder der Monarchie wurzelnden Generationszusammenhänge der vertriebenen österreichischen Juden; die Geheimnisse um verschwiegene jüdische Vorfahren, die nach Generationen aus ihrer Verborgenheit im Unbewußten drängen, bilden den Glanz des 1995 erschienen Romans Abschied von Jerusalem. Haus der Kindheit, der in diesem zu Ende gehenden Jahr erschienene Roman des in den USA aufgewachsenen Emigrantensohnes, der Roman des arisierten Hauses, der Roman der Geschichte der Verfolgung vergangener Jahrhunderte in einer österreichischen Stadt; der Roman der Traurigkeit einer männlichen Hauptfigur, die nicht die Traurigkeit des in der deutschen Literatur so beliebten einsamen Unverstandenen, sondern die Andeutung der seelischen Verfaßtheit der Nachfahren der europäischen Juden ist: Um es in ein Bild zu kleiden: Moses Mendelssohns Kindeskinder, jenseits des großen Teichs. Buchenwald liegt in Sichtweite von Weimar; beim Appell konnte man die Sonne sich in den Fenstern von Goethes Haus am Frauenplan spiegeln sehen. Die Besatzung der Wachtürme zumindest konnte das. Dieser magische Zufall ist klar. Ebenso klar liegt Mauthausen bei Linz. Das läßt die jungen Erwachsenen von damals nicht los, Heimrad Bäckers Nachschrift gibt davon ein beredtes Zeugnis. Auch die Nachgeborenen tragen die Last der Erinnerung. Auferlegt ist ihnen überdies die Last der umgedeuteten Erinnerung. Das Grauen der Geschichte als sensationelle Folie für irgendwas. Ist das alles? Oder anders gefragt: Ist das möglich? Hier liegt die Crux von uns Literaten, hier liegen wir wahrhaft im Staub. Was zwischen den Extremen liegt, sollte wahrgenommen werden, wird aber geleugnet und die Thematisierung abgelehnt. Zensur hat nicht stattgefunden. Doch die Entstehungsgeschichte so manches Kunstwerks könnte so manches berichten. Die beharrliche Kraft der Anna Mitgutsch, ihr ausdauernder Mut, so brisante wie umstrittene Themen, etwa das Verhalten der Gesellschaft gegenüber Behinderten, wie in dem Roman Ausgrenzung, oder die Problematik der literarischen Rezeption zu hinterfragen: ihre geduldige Darstellung elementarsten Grundwissens, das da abhanden kam zwischen Verleugnung der Vergangenheit und Begrüßung der neu-neuen Zeit: Die im Band Erinnern und Erfinden 1999 veröffentlichten Grazer Poetikvorlesungen sind ein meisterhaftes Beispiel von der Essaykunst der Autorin Mitgutsch. Anna Mitgutsch, du verteidigst unser Metier wie kaum eine oder einer in der Gegenwartsliteratur. Deine Intelligenz, deine Erfahrung auch als Lehrende wirfst du in die Waagschale, ge