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gen die Macht des Verdrängens und Wegschreibens nicht marktkonformen Unrechts, für ein Volk mit literarischen Instinkten, damit es wachse und die Wahrnehmung mehre. Dafür danke ich dir, im Namen der Jury, ganz persönlich. Laudatio, gehalten am 21. Dezember 2000, anläßlich der Überreichung des Würdigungspreises für Literatur 2000 durch Staatssekretär Franz Morak (vertreten durch Dr. Robert Stocker) an Dr. Anna Mitgutsch. Amerika — das wäre etwas gewesen. Nach Amerika gehen. Das war weit, groß und wichtig. Aber Österreich? Das klang ein bißchen nach Ostern, doch ziemlich viel nach gar nichts. Da gab es keine Indianer und keine Cowboys, nur Münzen, auf denen ein Pferd zu sehen war, das auf den Hinterbeinen stand. Da sprach man auch nicht Englisch und niemand hieß Bill oder Jane. Wir übernachteten kurz vor der Grenze. Es waren keine anderen Gäste in dem quadratischen Gasthof, doch Kümmelkörner im Brot. Ein störender, salziger Geschmack, der uns in Zukunft noch oft begegnen sollte. Die Mutter kratzte sie vorsichtig heraus. Noch wußten wir nicht, daß sie uns in einiger Zeit nicht mehr auffallen würden, ebensowenig wie der Knoblauchgeschmack der Wurst. Nur die Tante, die einmal im Jahr zu Besuch käme, würde „Iiih!“ sagen und zum Frühstück nur Marmeladebrote essen. Am ersten Oktober war Frühherbst mit Spätsommersonne. Im Dorf gab es nur einen einzigen Bürgersteig, und der verlief nicht vor unserem Haus, sondern irgendwo anders, dreißig Meter von hier nach da. Außerdem hieß er Gehsteig. Die Straße vor unserem Haus war mit Katzenkopfsteinen gepflastert, bucklig und ging an den Rändern in einen ungepflegten, staubigen Grasstreifen über. Es gab keine Straßennamen, die Häuser trugen Nummern und auch diese nicht fortlaufend. Die Ordnung, die ich kannte, lag zwei Tage und tausend Kilometer hinter mir. Im Garten neben unserem Haus spielte eine alte Frau mit Kindern. Ich stellte mich an den Zaun und sah hinüber. Nach einer Weile bemerkte sie mich und rief mir etwas zu. Ich verstand sie nicht. Die Frau kam an den Zaun und wiederholte ihre Worte. Ich wußte, daß sie nicht Englisch sprach, weil wir nicht in Amerika waren, sondern Deutsch, weil es sich ja um Österreich handelte, aber trotzdem konnte ich sie nicht verstehen. Da sprach sie ganz langsam. Und ich hörte ganz langsam zu, und verstand nur so viel: Sie ließen mich mitspielen. Die anderen Kinder staunten darüber, wieviel verschiedenes Geschirr wir verwendeten. Wir schienen für jede Art von Speisen spezielle Teller und eigenes Besteck zu nehmen. Auch daß wir die Tassen auf Untertassen stellten, war ihnen fremd. Dafür nannten sie sie Schalen oder Häferl, während wir immer nur Tassen sagten. Und probierten wir, Häferl zu sagen, war es garantiert eine Schale. So blieben wir bei Tassen. Es war alles zu wenig anders, um vollkommen fremd zu sein, und zu verschieden, um vertraut zu bleiben. Die ganze Welt schien um einen Schritt zur Seite gerückt, nur ich nicht. Ich war nicht mehr dort, aber auch nicht hier. Die Leute sprachen deutsch, aber doch nicht. Stühle hießen auf einmal Sessel und Sessel Fauteuils. Die neuen Worte verursachten bei uns nur Kopfschütteln. Und mit den Namen, die wir den Dingen gaben, riefen wir unerwartete Heiterkeit hervor: Puderzucker und Pampelmuse. Dafür grüßten die Dörfler bereits am frühen Abend mit „Guate Nocht“, und wir stellten uns vor, daß sie mit den Hühnern zu Bett gingen.Wir waren einander exotisch. Wenigstens gab es Fernsehen, aber Kinderprogramm wurde nicht jeden Nachmittag gesendet, sondern nur mittwochs. Doch auch der Kasperl sah ganz anders aus, und meine Augsburger Puppenkiste mit ihrer Marionettenvielfalt war der Urania Puppenbühne mit ihrer Puppeneinfalt gewichen. Vor Beginn und am Ende der Sendung erschien eine große Uhr auf dem Bildschirm. Wenn der Sekundenzeiger Viertel, Halb, Dreiviertel und Punkt erreichte, ertönten ein paar Takte Klaviermusik. Manchmal eine ganze Minute lang. Daß es der Donauwalzer war, erfuhr ich erst viel später, damals waren es nichts als 60 Sekunden Langeweile. Am ersten Schultag war ich die einzige mit Schultüte. Die anderen Mädchen hatten kleine Handtaschen. Meine Oma hatte mir einen grünen Hosenanzug genäht, die anderen trugen Kleidchen und Röckchen. Wir starrten einander an. Die anderen waren bereits zusammen im Kindergarten gewesen. Ich kam nicht nur von auswärts, ich kam von auslands. Endlich hatten meine Mutter und ich das richtige Klassenzimmer gefunden, in dem nur noch ein einziger Platz frei war — neben einem Buben. Als ich mich zu ihm setzte, steckten die anderen Mädchen die Köpfe zusammen und kicherten. Ich hatte nur mich selbst zum Tuscheln. Unser Lesebuch hieß „Meine Fibel“, und mit Hilfe von Pepi, Susi, Mali und Fritzi, die auf allen Bildern Dirndl und Lederhosen trugen, sollten wir Lesen und Schreiben lernen. Lesen konnte ich bereits, und während sich die anderen Kinder über Pe-Pi, Su-si, Ma-Li und Fri-tzi mühten, probierte ich es mit dem Vorwort. Dieses begann mit der Floskel „Werte Eltern!“ „Sehr geehrte“ kannte ich, „sehr verehrte“ ebenfalls — aber ,,werte‘? Vermutlich schon wieder so ein Austriazimus, mit dem das Land es darauf anzulegen schien, mich in Verwirrung zu stürzen. Die Erwachsenen sagten, daß ich so schön spräche, und hielten mich den eigenen Kindern als Vorbild vor. Das machte das Verstehen noch schwieriger. Meine Sprache war wie ein Zaun, der mich von ihnen trennte. Wir konnten einander sehen, aber ich stand stets auf der anderen Seite. Am Nationalfeiertag malten die anderen rot-weiß-rote Fahnen, ich sollte/durfte/ mußte/konnte/malte eine schwarz-rot-goldene. Es gab eine Feierstunde, in der wir uns mit unseren Fahnen in eine Reihe stellten. Rot-weiß-rot Rot-weiß-rot Rot-weiß-rot Schwarz-rotgold. Bevor wir die Niederösterreichische Landeshymne sangen, forderte mich die Lehrerin auf, den Text aufzusagen — weil ich ja so schön sprach... 21