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Als wir zum ersten Mal nach Wien fuhren, regnete es. Mein Vater ließ den Wagen am Stadtrand stehen. An einer starkbefahrenen Straße winkte er nach einem Taxi. Endlich hielt eines, und wir quetschten uns in der Eile versehentlich alle drei auf den Rücksitz. Es regnete gleichmäßig und ich beobachtete, wie die Scheibenwischer des Wagens nicht wie sonst parallel, sondern gegeneinander wischten. Der Fahrer schimpfte — auf das Wetter, den Verkehr und überhaupt. Diesmal waren wir froh, ihn nicht zu verstehen. Mit vierzehn entdeckte ich, daß Stadtluft frei macht. So oft wie möglich, fuhr ich daher samstags nach der Schule nach Wien und genoß es, einen ganzen Tag unerkannt herumstreifen zu können, ohne jemanden grüßen oder auch nur ein Wort sprechen zu müssen. Wie in einer Luftblase trieb ich durch den Menschenstrom und konnte mir einbilden, dazuzugehören solange ich den Mund hielt. Mein Akzent war wie Schielen oder X-Beine. Weniger als eine Behinderung, doch keinen Moment lang zu verbergen und fraglich, ob er sich jemals auswachsen werde. Der andere Ort, an dem ich frei war, lag immer noch in Deutschland, denn dort konnte ich sprechen „wie mir der Schnabel gewachsen war“, ohne damit verwunderte Blicke oder neugierige Fragen zu ernten. Und was noch wichtiger war, wenn ich nach Aprikosen fragte, bekam ich tatsächlich Marillen. Dabei kannte ich von dieser Kleinstadt fast nichts außer ihrem Namen, im Gegensatz zum Dorf in Niederösterreich, dessen neun Katastralgemeinden ich ebenso benennen konnte, wie die Gipfel der Voralpen, die sich an klaren Tagen am Horizont abzeichneten. Entschieden die falschen Fähigkeiten, um als Einheimische zu gelten. „Oachkatzalschwoaf“ aussprechen zu können, wäre weitaus besser gewesen. Außerdem hat man als Mädchen mit fünfzehn am Land lieb und nett zu sein, damit man einen Freund findet, der ein Auto hat, um mit einem in die Stadt zu fahren. Ich war goschert und fuhr Fahrrad. Dazu las ich den „Steppenwolf“, woraufhin ich mich - erst recht — so richtig unverstanden fühlte. Irgendwann zu dieser Zeit war auch die „Schlacht von Cordoba“ und hingerissen verfolgte ich, wie Krankl & Co. österreichische Fußballgeschichte schrieben. Meine Begeisterung über die kickerischen Leistungen konnte jedoch nicht lange vorhalten, denn schon am nächsten Morgen bekam ich auf dem Schulweg zu hören, daß man es „uns“ aber gegeben habe. Mangels anderer Deutscher mußte eben ich herhalten. Resigniert kratzte ich die Pezzey- und Koncilia-Aufkleber von meiner Schultasche. Warum auch hätte ich noch länger zu ihnen halten sollen? Einen Monat nach meiner Matura war es schließlich so weit. Ich ging nach Wien. Mein rot-weißer Seesack, den ich bei mir hatte, verstärkte das Gefühl in der Neuen Welt anzukommen, und ich erklärte die Pallas Athene vor dem Parlament kurzerhand zu meiner Freiheitsstatue. Ich war ein einziges Aufatmen, denn inmitten der Tiroler, Afghanen, Steirer, Ägypter und anderer Akzent-Sprachler im Studentenheim lösten meine Worte nun viel seltener dieses „Du bist wohl nicht von hier?!“ aus, mit dem der Sprecher meist nur sein eigenes feines Gehör unter Beweis stellen wollte, während ich es im Laufe der Zeit zu einem xenophoben „Du gehörst folglich nicht dazu!“ umgedeutet hatte. Im Gegenteil, plötzlich verlieh mir der Akzent in den Ohren meiner Umwelt den Nimbus einer Tochter aus gutem Haus. Vor allem bei Äm22 tern und Behörden erwies sich dieser unerwartete Vorteil als äußerst nützlich, und ich nahm ihn — wie ein neues Spielzeug — genüßlich wahr. Endlich fing ich an, mich zu Hause zu fühlen und begann zum ersten Mal in meinem Leben, Wurzeln zu schlagen. Und ohne daß ich es beabsichtigt oder bemerkt hätte, verblaßte mein akustisches Stigma. Je vertrauter ich in meinem neuen Leben wurde, desto fremder wurde mir mein früheres Heimatland — und mit ihm Sprache und Mentalität. In deutschen Supermärkten war plötzlich ich die Ausländerin, die in Unkenntnis der passenden Bezeichnungen nur noch „das da“ kaufte. An Mengenangaben standen mir automatisch Deka zur Verfügung, die ich jedoch vorsichtshalber in Gramm umwandelte, wollte ich nicht heillose Verwirrung stiften. Besonders schnoddrigen Verkäufern aber begegnete ich mit Waffen wie „Wachauer Laberl“ oder „Liptauer‘“. Und ein nachgeworfenes „Ischü-hüß“ traf mich nun wie ein Eiswürfel im Genick, den ich mit „Ciao, Baba!“ zu parieren versuchte. Und eines Tages passierte es. Ich öffnete den Mund und mein deutsches Vis-ä-vis fragte in meine Worte hinein: „Was is’n das für’n Akzent?“ Schon wollte ich mir gottergeben das Piefke-Pickerl ans Revers heften, da wurde mir bewußt, daß die Frage diesmal aus den „eigenen“ Reihen kam. Verwirrt klappte ich meinen Mund wieder zu. „Wo kommst du denn her?“, bohrte das Vis-a-vis nach. „Österreich“, murmelte ich unsicher zwischen den Zähnen hervor, „Wien.“ Begeistert strahlte das Vis-ä-vis mich an: „Östraich!! Is ja gail! ‘N echtes Weana Madl, wa?“ Perplex starrte ich dem Vis-a-vis in sein erwartungsvolles Staunen, bevor ich grinsend antwortete: „No na net!“ Was ich niemals geglaubt hätte, war eingetreten. Ich saß zwischen den beiden Stühlen derselben Sprache. Genauer gesagt — zwischen Stuhl und Sessel. Hier wie dort hatten meine Worte einen fremden Akzent und ich ging auf keiner Seite mehr als Einheimische durch. Als Kind hätte mich diese Tatsache in tiefe Verzweiflung gestürzt, jetzt aber amüsierte sie mich. Denn mittlerweile hatte ich ohnehin den Ort gefunden, wo ein Akzent keinerlei Rolle spielt und der ein für allemal zu meiner Heimat werden sollte — den Text. Felicitas Freise, geb. 1964 in Nordrhein-Westfalen, aufgewachsen in Niederösterreich, lebt als Wienerin in Wien. Journalistin und Schriftstellerin. Erste Schritte als Lyrikerin unter der Patronanz von Hans Weigel, Veröffentlichungen in diversen Anthologien und Literaturzeitschriften. Regelmäßige Veröffentlichungen unter dem Pseudonym Felii Frisee in Cosmopolitan/Suisse und Miniaturen in Maxima. 1998 und 1999 Preisträgerin des Kurzgeschichten-Wettbewerbs der Zeitschrift Wienerin, 1999 Preisträgerin des niederösterreichischen Wettbewerbes Namen und Gesichter.