OCR
„Würden Sie meine Kinder verstecken?“ Vermutlich ruft diese Frage auch bei Ihnen ein Einhalten und Nachdenken hervor.' In den Jahren der Verfolgung durch den Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich war die Antwort darauf eine Überlebensfrage. Die verfolgten Kinder waren der Unverständlichkeit einer sich brutal ändernden Welt ausgeliefert. Als Erwachsene erzählen nun viele davon und schreiben ihre Lebenserinnerungen auf, um mit dieser Kindheit zurecht zu kommen. Wird uns heute diese Frage gestellt, scheinen unsere Antworten bloß hypothetisch, dennoch können wir uns ihr nicht entziehen. So widmet sich dieses ZW-Heft über Kinder in der Verfolgung, im Exil und in der Literatur einem Thema, das man nicht einfach kühlen Verstandes aufarbeiten kann. Den unterschiedlichen Aspekten dieses Schwerpunkts und dem vielfältigen kulturellen Anspruch der Zeitschrift entsprechend, wurden Beiträge erbeten, die dem sensiblen Bereich der Kinderverfolgung aus rassistischen und weltanschaulichen Gründen eine angemessene Stimme verleihen können, eine leise Stimme für eine besonders leise, seelisch und materiell abhängige und machtlose Gruppe in der Gesellschaft. Zeichnungen und Texte der Kinder des KZs Theresienstadt konnten dank der freundlichen Vermittlung des österreichischen Botschafters in Prag und seiner Gattin ausgewählt werden, durch die eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum in Prag und seiner Außenstelle in Theresienstadt entstand. Hinzu kommen Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen; ihre Aufzeichnungen und Erinnerungen von damals bis heute sind als gesellschaftliche „Urkunden“ von dokumentarischem und oft literarischem Wert. Wie Nadine Hauer in ihrem Artikel darlegt, war es noch Jahre nach den traumatischen Erlebnissen denen, die als Kinder der Vernichtung entgangen waren, fast unmöglich, über ihre Erlebnisse zu sprechen, und wenn sie es dennoch taten, wurden ihre Geschichten mit den Worten abgetan: „Was konntest du schon wissen?“ oder „Du kannst dich unmöglich erinnern, und begreifen konntest du das alles auch nicht“. Auch die literarischen Beiträge dieses Heftes sind Ausdrucksformen des Leids und der Trauer. So mündet die Auseinandersetzung mit der Verfolgung und Exilierung von Kindern oft nach einer Phase der Sprachlosigkeit in literarische Gestaltung, vor allem in Kurzformen wie Lyrik und lyrische Prosa. Ich möchte an Nelly Sachs' Worte erinnern: ,,O der weinenden Kinder Nacht!/ Der zum Tode gezeichneten Kinder Nacht!/ Der Schlaf hat keinen Eingang mehr./ Schreckliche Wärterinnen/ sind an die Stelle der Mütter getreten,/ haben den falschen Tod in ihre Handmuskeln gespannt,/ sien ihn in die Wände und ins Gebälk —/ (...) Weht nun der Wind des Sterbens,/ bläst die Hemden über die Haare fort,/ die niemand mehr kämmen wird.‘ Die literaturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Ausführungen können den theoretischen Zugang erklären und erleichtern. Beispiele der Gedenkkultur stehen für unser Geschichtsbewußtsein und unsere Verantwortung. Den Autorinnen und Autoren und allen, die mir mit Rat halfen, danke ich für das positive und konstruktive Echo auf meine Fragen, für ihre Beiträge und ihre Hinweise. Es ist ein ansehnliches Kompendium entstanden, so daß es uns angemessen scheint in einem Folgeheft (Nr. 4/2001) weitere Beiträge zum Thema zu bringen, u.a. von Viktoria Hertling, Daniela Hessmann, Harry Kaufmann, Jana Mikota. Ich danke allen, die mir und den Leserinnen und Lesern der Zwischenwelt ihre Erinnerungen anvertraut haben, und wünsche mir, daß wir respektvoll damit umgehen. Wir wollen ihre Zuwendung zu uns, der nachfolgenden Generation, dankbar annehmen, um uns selbst und die Heranwachsenden in unserer Gesellschaft zu verantwortungsvoller Menschlichkeit zu erziehen. Wir wollen die Enttäuschung und Orientierungslosigkeit der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nach der Rückkehr in die fremde Heimat respektieren, sie anhören und ihr Gefühl der Nirgendwohin-Gehörigkeit nicht als Last ansehen sondern als Verpflichtung. Und wir wollen ihre Abwendung akzeptieren, wenn sie ein neues Zuhause gefunden haben und vergessen wollen. Dieses ZW-Heft versucht auch daran zu erinnern, welche Chance Kinder für unsere Gesellschaft darstellen. Wir gehen dabei den Umweg über unsere Geschichtserfahrung und hoffen, wie Nadine Hauer mit den Worten des Chassiden Baal Schem sagt, „daß in der Erinnerung das Geheimnis der Erlösung liegt“. Trotz meiner Traurigkeit angesichts der Maßlosigkeit der Aggression des Geschehenen übergebe ich somit dieses ZWHeft den Leserinnen und Lesern so bruchstückhaft wie es ist . Bruni E. Blum Anmerkungen 1 Vgl. Peter Novick: Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord. Stuttgart: DVA 2001. S. 225-263. 2 Nelly Sachs: Fahrt ins Staublose. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1961. S. 10. Milena B., 10 Jahre, Theresienstadt. Foto: Jiidisches Museum Prag 23