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Diese Kindheitsbilder gestaltete die Lyrikerin Jaffa Zins aus ihrer Erinnerung an Ereignisse, die sich in den Jahren 1938 bis 1945 in ihre Heimatstadt Kuty/Kitoff (Ostgalizien, dann Polen, heute Ukraine) ereigneten. Haß Ich betrachtete Samico, der von meiner Mutter in den Armen gehalten wurde. Sein Gesichtchen wurde vom Licht der untergehenden Sonne beschienen. Plötzlich zerriß ein Hustenanfall die Stille, sein kleiner Körper zitterte vor Schmerzen. Er rang nach Luft, drohte zu ersticken. Mein Vater schickte mich, den Arzt zu holen, den er im Kasino vermutete, wo dieser gerne Karten spielte. Mit dem Klang des schrecklichen Hustens im Ohr lief ich sehr schnell. Ich kam zum Kasino, aber der Portier ließ mich nicht hinein; schließlich erbarmte er sich meiner und holte den Arzt. Ich wartete lange in der Winterkälte, bis der polnische Arzt endlich herauskam. Als er aber hörte, was ich von ihm wollte, entgegnete er, daß er beschäftigt sei und nicht kommen könne. Ich weinte und bat ihn inständig, mein todkrankes Brüderchen zu retten. Er sah mich spöttisch an und meinte dann: Was ist schon dabei, wenn dein Brüderchen stirbt, ein Judenkind weniger... Prophezeiung Am dritten Todestag kamen wir vom Friedhof nach Hause und saßen bei Dämmerlicht im Wohnzimmer. In einer Ecke brannte die Trauerkerze, die beängstigende Schatten an die Wand warf. So verweilten wir eine gute Stunde in tiefer Trauer, als ein Freund der Familie, Mordechai Eidler, eintrat und uns anfuhr: „Ihr weint? Das Kind starb in den Armen seiner liebenden Mutter!“ Und indem er auf die beiden Brüder Mordchele und Isico deutete, fragte er: „Wißt ihr, welcher Tod diese beiden Kinder erwartet?‘ Meine Mutter stand erschüttert auf und stellte sich zwischen den Gast und die beiden kleinen Brüder als wolle sie sie vor ihm schützen. „O, du Ärmste, weißt du, welcher Tod dich erwartet?“ Ergriffen von seinen eigenen Worten brach er zusammen und weinte lange Zeit, wohl im Gedanken daran, was vielleicht auch ihm bevorstand. Dann verließ er eilig das Zimmer. Die Prophezeiung blieb im Raum. Er wußte nicht, wie wahr seine Worte werden würden. Ein Jahr später brach der Zweite Weltkrieg aus. Polen wurde vom deutschen Militär erobert und dann zwischen Rußland und Deutschland aufgeteilt. Die Stadt Kitoff gehörte zum sowjetrussischen Teil. Am 22. Juni 1941 griff Deutschland überraschend die Sowjetunion an, und der Krieg zwischen den beiden Mächten begann. Kitoff wurde von deutschen Flugzeugen bombardiert, Panik und Chaos waren die Folge. Zwei Tage später versammelte der russische Kommandant alle Einwohner und verkündete, daß die Stadt geräumt werde. Wer in der russischen Verwaltung gearbeitet hatte, wurde aufgefordert, am kommenden Morgen die Stadt zu verlassen, da seine persönliche Sicherheit gefährdet sei. Da es an Transportmitteln fehlte, wurde den Beamten verboten, Familienangehörige mitzunehmen. 24 Schlaflose Nacht Spät in der Nacht kamen wir von dieser Versammlung nach Hause und waren alle verstört. Ein schweres Gefühl der Hilflosigkeit und Angst vor einer ungewissen Zukunft bemächtigte sich meiner. Die Neuigkeit, daß mein Vater, Moshe und Ester uns verlassen würden, war schwer zu ertragen. In dieser Situation kam Surtsche, die Schwester meiner Mutter, zu uns. Als sie unsere Ratlosigkeit sah, versprach sie meinem Vater, bei uns zu wohnen, bis die Familie wieder zusammen sein könnte. Ihre Fürsorglichkeit und Zuversicht gab uns neuen Mut. Dennoch verbrachten wir eine schlaflose Nacht. Bekannte kamen und gingen. Um zwei Uhr in der Früh wurde Mosche abgeholt. Ich wollte ihm etwas zum Abschied sagen. Als ich aber sah, wie sehr er drängte, fiel mir nichts mehr ein... Nachdem Mosche gegangen war, überkam mich eine schreckliche Leere. Der Zerfall meiner Familie hatte begonnen. Abschied Um fünf Uhr früh wurde mein Vater zur Sammelstelle gerufen. Wir alle standen da und weinten. Plötzlich faßte mich mein Vater bei der Hand und sagte: „Scheindele kommt mit mir.“ Für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen. Ich preßte mich an meine Mutter und weigerte mich, sie loszulassen. Sie streichelte meinen Kopf und beruhigte mich: „Geh mit deinem Vater, er weiß, was er will und was er tut.“ Dann ging sie zum Schrank, nahm ein Bündel Kleider, gab es mir und schob mich sanft vorwärts. Wir gingen zum Sammelplatz, wo die Wagen schon warteten und stiegen auf. Ich erinnere mich, daß Mordchele und Isiko den Vater anflehten, auch sie mitzunehmen. Aber der Kutscher fluchte und drohte, er würde mich wieder absetzen, wenn die Jungen auf den Wagen kletterten. Die Reise begann. Meine Brüder und meine Mutter winkten uns zum Abschied traurig nach. Eine knappe Stunde später ließen wir die letzten Häuser des Städtchens hinter uns. Plötzlich wurde mir bewußt, daß ich aus meiner Kindheit herausgerissen worden war, aus einer Welt, die ich mit ihren guten und schlechten Seiten liebte. Ich fühlte mich mit einem Schlag erwachsen. Blutbad In der nächsten Nacht machten wir in einem Dorf halt. Mich beschlich ein unheimliches Gefühl. Unvermittelt schrie jemand: „Man mordet Juden!“ Ich sprang vom Wagen hinunter. Vor mir stand ein ukrainischer Bauer mit einer Axt in der Hand. Ich stand wie erstarrt und versteinert. „Bist du Jüdin?“ fragte er. „Scher dich fort, ich will dich nicht sehen!“ schrie er. Ich lief so weit mich meine Beine trugen und versteckte mich zwischen den Bäumen. Bis Mitternacht hörte man die Schreie der zu Tode Gepeinigten. Als der Morgen graute, faßte ich Mut und verließ mein Versteck. Meinen Augen bot sich ein Bild des Entsetzens. Entlang des Weges lagen erschlagene Menschen mit gespaltenen Köpfen und abgehackten Körperteilen. Vor Angst zitternd suchte ich meinen Vater und Ester.