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Irene Neuwerth Die verlorene Puppe Ich hatte meine Puppe verloren sie war klein trug ein rotes Kleid wir wären auf der Flucht fast erfroren die Angst hielt sich ständig bereit. Ich hatte meine Kindheit verloren sie war sehr kurz voll Tränen und Leid wir wären auf der Flucht fast erfroren der Weg nach Wien war so weit. Ich hatte meine Mutter verloren es war Nacht sie fiel wie ein Stein wir wären auf der Flucht fast erfroren ich war in dem Dunkel allein. Wir hatten die Heimat verloren sie war fern neben uns nur der Tod wir wären auf der Flucht fast erfroren das Kleid meiner Puppe war rot. Irene Neuwerth, 1933 in Dresden geboren, lebt in Wien. Gelernte Kinderpflegerin. Schreibt Lyrik und Kurzprosa. Ihre Gedichte sind in zahlreichen Literaturzeitschriften und Anthologien im In- und Ausland veröffentlicht worden. Über ihren Mann schrieb sie „Otto N. — die Geschichte eines Widerstandes (1942 — 1945)“ in MdZ Nr. 1/1996, S. 30f. 1993 erhielt sie den „Luitpold Stern-Förderungspreis“ für Literatur. Nicht bekannt ist bisher, wie viele Kinder in Europa während des nationalsozialistischen Regimes zur Flucht gedrängt und ins Exil getrieben worden sind.' Die psychischen und körperlichen Schäden, die die Kinder und Jugendlichen erleiden mußten, lassen sich nur erahnen. Dabei haben sich bereits exilierte Autoren und Autorinnen selbst mit dem Problem der exilierten Kindheit auseinandergesetzt: Joseph Roth thematisiert 1938 in seiner Reportage Die Kinder der Verbannten die „Kinder der Emigranten‘” und auch Anna Seghers wendet sich in ihrem Text von Frauen und Kinder in der Emigration dem Thema ‚Kindheit im Exil’ zu und stellt Fragen wie die, ob ,,[... ]man dem jungen Kind alle Spannungen der Emigration zumuten‘ soll und darf. In ihrem Tagebuch schreibt sie im Juni 1934: [...] Wir zeigen ihnen [den Kindern] Broschiiren fiir Deutschland, die man mit der Lupe liest. Vor allem die Einheit bewahren! Vor allem, niemals die Vergangenheit verraten! [...] Die Tatsache, daß L., der noch vor zwei Wochen bei uns war, verhaftet worden ist, hat die Kinder sehr bestiirzt. Aber man kann ihnen diese Nachrichten nicht ersparen, und man darf es nicht.‘ 26 Aber auch Zeitschriften der Exilländer haben sich der Situation der Kinder im Exil angenommen: In der Zeitung Luzerner Tagblatt im November 1934 wird die Situation der Exilierten unter der Überschrift So haben die Emigrantenkinder gelebt beschrieben: Tausende von mittellosen Emigrantenfamilien hausen heute in Paris, in einem Außenquartier, das den stolzen Namen „Belleville“ führt, wie zum Hohne auf die engen Gassen, auf die alten, verfallenen Häuser, die dort stehen. Einige dieser Häuser tragen den Namen „Hotel“, doch sind sie nichts anderes als armselige Schlupfwinkel für Obdachlose. Hier leben die Emigranten, ganze Familien mit Kindern in einem einzigen Raum, als Betten Pritschen oder Strohsäcke, Körbe und Kisten für die Kleinsten, als Tische und Schränke wieder Kisten und alte Koffer, als Vorhänge zerrissene Laken vor zerbrochenen Fensterscheiben. [... Die katastrophalen Verhältnisse in den Emigrantenheimen dokumentiert die Zeitschrift AIZ (,,Arbeiter-Ilustrierten-Zeitung“). In zahlreichen Artikeln wird das Heim in Strasnice Tschechoslowakei — erwähnt, in dem sich neben Erwachsenen