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‚private’ Leben wurde auch die Schule radikal verändert: Das 1934 erlassene Gesetz „gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ untersagte ‚nichtarischen’ Jugendlichen den Besuch an mittleren und höheren Schulen.' In der Schule und im Kindergarten waren Kinder täglich dem Antisemitismus ausgesetzt: Die Lehrer fingen an, mich vor der ganzen Klasse „JudenJunge“ zu nennen. Selbst meine Klassenkameraden gewöhnten sich daran — obwohl sie nicht einmal wußten, was es bedeutete. Wir nahmen es einfach hin; ich genau so wie meine Freunde. Dann kam der jährliche Schulsporttag. Schießen gehörte auch zu den Wettkämpfen. In dem Jahr war ich der beste Schütze, aber als die Preise verteilt wurden, war ich plötzlich nur zweiter. Ich hörte, wie einer meiner Schulfreunde zu dem Lehrer sagte: „Das muß ein Irrtum sein.“ Und die Antwort war: „Wir können doch keinen Judenjungen zum Schützenkönig erklären!“ Ich war sehr unglücklich darüber." Die Gründe für diese Veränderungen waren den Kindern unbekannt. Häufig erfuhren sie erst jetzt, daß sie Juden waren und konnten mit diesem ‚Jüdisch-sein’ wenig anfangen." Zeitzeugen berichten, daß die Jungen Mitglieder der Hitlerjugend werden, die Mädchen dem Bund Deutscher Mädchen beitreten wollten, denen bereits ihre bisherigen Freunde beigetreten waren und die sie aufgrund der ‚polierten Stiefeln’ und des Marschierens bewunderten.'” In den Augen der Kinder und Jugendliche trugen, so Papanek, die Eltern die Schuld an dieser ,,Last des Andersseins“”: Ich habe es mir nicht gewiinscht, als Jude geboren zu werden! ruft es in ihm, während das feindliche Lager immer verlockender wird.” Durch diese Schuldzuweisungen war der Keim zu Auseinandersetzungen vor allem in assimilierten Familien gelegt. Die Situation konnte in den politisch orientierten, aber auch jüdisch-orthodoxen Familien dagegen anders aussehen: Die Kinder erfuhren mehr über die politische Situation des Landes, waren sich der Gefahren, die ihnen nach 1933 drohten, bewusster und gingen mit ihren oder auch ohne ihre Eltern ins Exil. Der Pädagoge Ernst Papanek, der zahlreiche Flüchtlingskinder aufmerksam betreut hat, verweist ebenfalls auf solche Unterschiede innerhalb der exilierten Kinder: „Es ist nicht 14 Tage Ferien umsonst! Ein Preisausschreiben für die Kinder unserer “Aufbau”-Leser Liebe Kinder! Wir haben es ungerecht gefunden, dass immer nur die Erwachsenen Preisausschreiben lösen sollen und Ihr nicht. Das wollen wir heute ändern, und deshalb stellen wir Euch folgende Aufgabe: Ihr habt sicher In dem neuen Lande, in das Ihr mit Euren Eitern gekommen seid, schon viele interessante Erlebnisse gehabt. Darum nennen wir das Preisausschreiben für Each: "Ich habe einen neuen Freund gefunden.” Es kann natürlich auch eine Freundin sein, Und es braucht kein Kind zu sein, sondern auch ein Erwachsener, ein Lehrer, ein Polizist, ein “Junge von nebenan” oder ein “Mädel von gegenüber”. Darüber sollt Ihr uns etwas erzählen, Schreibt einmal auf, was Ihr für nette Bekanntschaften gemacht habt, und schickt es an die Redaktion des “Aufban” bis zum 10. Junt. Was uns gefällt, werden wir abdrucken. Für die bexte Geschichte haben wir einen Preis auagesetzt, der Bach und Euren Eitern sicherlich grosse Freude wird, Eine Freundin unseres Blattes und eine grosse Freundin von Kindern, Mrs». G. Fehr, wird den Gewinner oder die Gewinnerin des Preisausschreibens 14 Tage gratis im Fenmore Day Camp beherbergen. Mrs. G. Fehr ist Leiterin dieses Camp, in dem Jungen und Mädchen von sechs bis vierzehn Jahren tagsüber idesle Sommerferien verhringen können. Schreibt ums also, ganz kurr, und gebt Euer Alter und Adresse an. Good Luck! Die Redaktion des “Aufbau”. Aufbau, Nr. 10, 1.6. 1939 28 überraschend, daß Kinder, die wegen der politischen Tätigkeit ihrer Eltern ihr Land verlassen müssen, dem Einfluss politischer Ereignisse auf ihr Leben eine gesunde Aufmerksamkeit schenkten. [...] In einer Beziehung aber waren die Robinsoner [Papanek nennt so die Kinder politischer Flüchtlinge - JM] den Orthodoxen [Kinder, die jüdisch orthodox erzogen wurden — JM] sehr ähnlich. Sie wußten, wer sie waren und warum sie im Exil waren. Sie waren Antifaschisten.‘“”? Die Akkulturation im Exilland vollzog sich im allgemeinen bei Kindern und Jugendlichen schneller als bei Erwachsenen: die neue Sprache wurde in kürzester Zeit erlernt und ersetzte weitgehend die Muttersprache, die fast ausschließlich in der Familie gesprochen wurde. Ernst Papanek stellte in seinem Kinderheim fest, dass deutschsprachige Kinder teilweise französisch und deutsch miteinander gesprochen hätten. Wolfgang Leonhard bemerkt in seiner Autobiographie Die Revolution entläßt ihre Kinder, dass, sobald der Wechsel von einer deutschsprachigen [in seinem Fall von einer Schule auf der sowohl russisch als auch deutsch gesprochen wurde] in eine russischsprachige Schule erfolgte, viele russisch miteinander redeten.” So waren die Kinder meist bemüht, sich in der Sprache, Gestik oder Mimik nicht von ihren ‚neuen’ Freunden zu unterscheiden, lediglich der Akzent entlarvte sie als Flüchtlingskinder. Das Sprachproblem haben sowohl Kinder, die mit ihren Eltern exilieren als auch die Kinder, die ohne ihre Eltern ins Exil gehen mussten. Aber den Kindern mit Familie war die Möglichkeit gegeben, zu Hause ihre Muttersprache zu sprechen und zu lesen. Die Sehnsucht nach der Muttersprache äußerte sich unterschiedlich: einige Kinder möchten deutsch sprechen, andere Kinder verweigerten das Sprechen in ihrer Muttersprache.” Kinder, die mit Eltern emigrieren Die Kinder, die das ‚Glück’ hatten, mit ihren Eltern ins Exil zu gehen, konnten häufig nicht bei ihren Eltern wohnen. Für die Eltern bedeuteten Kinder zum Teil immer auch eine Belastung mehr im Exil bei der Unterbringung. Hilfe boten den Eltern verschiedene Organisationen an, denn Eltern konnten hier Kinder in Heimen unterbringen. So schrieb Bruno Frei in der Neuen Weltbühne: Zahlen sind ausdruckslos, das Leben einiger Flüchtlingskinder sagt mehr aus. Da sitzen im Vorzimmer drei Kinder, sie sind erst vor kurzem aus Deutschland gekommen. Vater, politischer Flüchtling, ist schon länger im Ausland. Mutter blieb mit den Kindern in Deutschland. Eine Mischehe, die der Nationalsozialismus zerstört hat. Die Frau wurde vom Aufbruch der Nation erfaßt und verstieß ihre Kinder. Dem Vater gelang es, sie aus Deutschland herauszuholen. Nun sitzen sie da und belasten das ohnehin schwere Leben des Flüchtlings, der seine Kinder vor Hitler retten wollte. Hat er sie nun gerettet oder zum Untergang verurteilt? Das wird davon abhängen, ob die Assistance Medicale die Kinder in einer Familie oder in mehreren unterzubringen vermag.” Ein weiteres Beispiel, von dem Bruno Frei berichtet, ist das Schicksal des Kindes Inge, sieben Jahre alt: Sie mußte mit ihren Eltern von Land zu Land fliehen und wünscht sich einen Ort, an dem deutsch gesprochen wird, an dem sie mit anderen Kindern spielen und an dem sie — das ist der entscheidende Punkt - bleiben darf. Das Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder (SHEK) unterstützte die Exilierten mit ihren Kindern, in dem es den