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Tagen zu Verständigungsproblemen kam — und das familiäre Umfeld, sondern auch Bräuche, das Essen und die Schule. Der neue Lernstoff bereitete ihnen Schwierigkeiten. Sie mußten sich Tests unterziehen, wurden aufgrund der mangelnden Sprachkenntnisse, aber auch aufgrund der mangelnden Kompatibilität der deutschen und englichen Lehrpläne mehrere Klassen zurückgestuft, was das Einleben der Kinder weiter erschwerte. Sie waren nicht mehr mit gleichaltrigen Kindern zusammen, sondern mit jüngeren, und dabei fühlten sie sich mitunter in einigen Fächern - beispielsweise in Mathemathik — unterfordert. Nicht jedes Kind, das nach Großbritannien kam, konnte seine Schulausbildung fortsetzen. Vorgesehen war lediglich die Grundschulausbildung, „im Rahmen der englischen Schulpflicht, die sich bis zum 14. Lebensjahr erstreckte.‘ Die Kosten wurden von der britischen Regierung übernomen. Der Besuch höherer Schulen oder gar ein Hochschulstudium waren nicht vorgesehen. Nach der Grundschulausbildung sollten die Kinder einen Beruf ausüben. Für die älteren Kinder — Anfang 1940 waren immerhin 2.000 Kinder über sechzehn Jahre alt“ — bedeutete das, sich von einem Traum zu verabschieden, den sicherlich viele von ihnen in Deutschland oder Österreich geträumt hatten. Den Pflegefamilien wurde es selbst überlassen, ob sie ihre Schützlinge auf höhere Schulen schickten. Göpfert stellt in ihren Untersuchungen fest, daß „offensichtlich mehrere Familien ihre Pflegekinder auf eine weiterführende Schule schickten. Auch zahlreiche private Schulen und Internatsschulen boten kostenlose Plätze für besonders begabte Flüchtlingskinder an.“ Zusätzlich mußten sie sich an die englische Art gewöhnen: „My guardians were very good people, but they weren’t atall like my family, they weren’t very overt or demonstrative or — they were very reserved and English.“ Hinzu kam, daß viele der Kinder englische Vornamen bekamen, weil die Engländer ihre deutschen nicht kannten. Die Pflegeeltern — häufig selbst kinderlos — wollten zudem die Funktion der leiblichen Eltern übernehmen, die Eltern ersetzen: „And I wasn’t fair either, in that I always called them Mr. and Mrs. Feirs, I never — and they said to me: ,Do you want to call us aunt and uncle?’, and I said, I’ve got aunts and uncles, and I’ve got a mother and a father.“* Ein weiteres Problem der Verantwortlichen der Kindertransporte bildete die religidse Erziehung der Kinder. Aber nicht alle Pflegefamilien waren jiidischen Glaubens, was fiir viele Kinder aus jiidisch orthodoxen Familien einen partiellen Verlust der Identität bedeutete, konnten sie doch nicht koscher essen oder ihre Feiertage einhalten. Traditionen, nach denen sie, ihre Eltern und Großeltern gelebt hatten, wurden aus ihrem Leben gestrichen. Die Kommitees waren durchaus bemüht, die Kinder in jüdischen Familien unterzubringen, was aber nicht immer möglich war. Einige der christlichen Gasteltern nahmen Rücksicht auf die jüdische Religion und „kauften spezielle Töpfe, um eine einigermaßen koschere Küche zu halten, und hielten die Kinder zur Religionsausübung an.“ Andere Familien dagegen akzeptiertern die jüdische Religion nicht, und den Kindern wurde die Möglichkeit der Ausübung der Feiertage nicht gestattet. Nur selten gelang es den englischen Familien auf die traumatischen Erlebnisse einzugehen, die die Kinder im Dritten Reich erlebt hatten. So waren die meisten jüdischen Männer im Laufe der Reichspogromnacht verhaftet worden, und ihre Söhne und Töchter hatten diese Verhaftungen miterlebt. Über 30 das Geschehen und die Gründe der Emigration wurde ebensowenig wie über die Einsamkeit der Kinder diskutiert. Die Kinder berichteten nicht über ihre Sorgen, sondern schrieben meist voller Enthusiasmus nach Hause. Dieses Briefeschreiben war für die exilierten Kinder von äußerster Wichtigkeit, stellten die Briefe doch die einzige Verbindung zu ihren Eltern her. Manche der Kinder, die nach Großbritannien gelangt sind, waren allerdings noch zu jung, um lesen oder schreiben zu können. Sie waren, was das Briefeschreiben und -lesen anbelangt auf die Hilfe ihrer Gasteltern oder der deutschsprechenden Kommiteemitglieder angewiesen. Nicht immer konnten die Briefe der Eltern den Kindern vorgelesen werden, so daß einige der Kinder erst Jahre später in den Besitz und Kenntnis der Briefe gekommen sind: „Die Briefe meiner Mutter türmten sich in Mrs. Coles’ Schlafzimmer zu einem Berg, das sah ich mit eigenen Augen; aber Mrs. Coles erzählte mir, es gebe keine Briefe. Hätte ich sie nur lesen können!“ Für viele Kinder hatte sich nicht nur die Familie, sondern das gesamte soziale Milieu verändert. Die Kinder, die aus wohlhabenderen Schichten kamen, mußten jetzt in relativer Armut leben und ihr Zimmer mit anderen teilen. Hinzu kam, daß nicht in allen Gastfamilien Musik oder Bücher die von dem bildungsbürgerlichen Elterhaus vertraute Rolle spielten. Häufig reduzierte sich das Leben der Kinder auf die Schule sowie das Mithelfen im neuen Zuhause. Die älteren Kinder versuchten zudem vom ersten Tag an, Unterkünfte und Papiere für ihre Eltern, Verwandte und Freunde, die in Deutschland geblieben waren, zu besorgen: Als ich in England ankam, wußte ich, wie verzweifelt die Menschen in Deutschland waren.Und obwohl mein Englisch nicht besonders gut war, machte ich es mir zur Aufgabe, Unterkünfte für meine Landsleute aufzutreiben. Ich fand ein Zuhause für meinen damaligen Freund |...]. Er fing in einer Molkerei an und überlebte. Ich fand eine Familie für meine beste Freundin [... ]* Das Leben der Kinder, die nicht in einer Pflegefamilie, sondern in Kinderheimen lebten, sah bemerkenswert anders aus: Die Kinder, die in Heimen untergebracht wurden, konnten teilweise glücklicher als Kinder in Pflegefamilien sein: Frau Schlesinger [sie und ihr Ehemann leiteten ein Wohnheim im Norden Londons — JM] holte uns am Bahnhof Liverpool Street ab, und es machte tiefen Eindruck auf uns, daß sie fließend Deutsch sprach. [...] Man empfing uns freundlich, wir wurden gut versorgt, und es mangelte uns an nichts: wir hatten wirklich großes Glück. Unsere Gruppe bestand aus fünf Jungen und sieben Mädchen, und wir kamen sehr gut miteinander aus.” Dies hatte sicherlich unterschiedliche Gründe. Zum einen lebten im Heim mehrere Kinder, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten, und mit denen sie sich demzufolge aussprechen konnte. Die Ängste der Kinder — bespielsweise die Fragen nach dem Leben der Eltern oder das tägliche Warten auf die elterlichen Briefe — waren ebenfalls ähnlich, so daß sich die Kinder untereinander Halt geben konnten. Zum anderen war die Leitung der Heime besser auf die Situation der Kinder vorbereitet und vermochte daher den Kindern mit ihren zum Teil traumatischen Erfahrungen besser zur Seite zu stehen als viele der Pflegeeltern. Was die Sprachprobleme betrifft, so Konnten die Kinder im Heim untereinander weiterhin in ihrer Muttersprache diskutieren und systematischer die Sprache erlernen als die Kinder in den Gastfamilien, wo sie sich von heute auf morgen um