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stellen mußten, um sich verständigen zu können. Vera Gissing, die als Kind aus der Tschechoslowakei nach England kam, zunächst bei Familien lebte und dann schließlich in ein Kinderheim mit tschechischen Kindern kam, schildert in ihrer Autobiographie Pearls of Childhood ihre Begeisterung, endlich wieder tschechisch zu sprechen: „Ich fühlte mich wohl - ich war zu Hause.‘“* In ihrer Autobiographie spielen, zur Bewahrung ihrer tschechischen Muttersprache gegen den in der Gastfamilie drohenden Sprachverlust, die Biicher eine wichtige Rolle: Ich war so wild entschlossen, nur ja kein einziges tschechisches Wort zu vergessen, daß ich in all den Jahren, die ich in meiner englischen Familie verbrachte, die wenigen Bücher, die ich besaß, immer und immer wieder las.” Nichtsdestotrotz: Die Kinder vermißten auch im Heim ihre Familien. Besonders schmerzlich wurde dies den allein emigrierten Kindern an den Besuchstagen bewußt — manche der im Heim lebenden Kinder haben ja ihre Eltern in Großbritannien —:! „Viele meiner Mitschüler hatten ihre Eltern in England, und so waren die Wochenenden den Besuchen vorbehalten. Bei solchen Gelegenheiten organisierten die Lehrer einige Aktivitäten für die von uns, die niemanden hatten, damit wir uns nicht so verlassen fühlen sollten. Trotzdem fühlte ich mich an diesen Besuchstagen miserabel, ich war krank vor Heimweh und neidisch auf die anderen.“ Die Situation der Kinder verschlimmerte sich, als sich die Situation nach der Kapitulation Frankreichs auch in Großbritannien zuspitzte: Die Kinder, die sechzehn und älter waren, wurden als ‚enemy aliens’ in Internierungslager verbracht. Das heißt, daß sich die Kinder erneut mit ihrer Identität auseinandersetzen mußten. Deutschland hatte sie vertrieben, weil sie nicht ‚deutsch’ waren und in Großbritannien wurden sie verhaftet, weil sie ‚deutsch’ waren. Zu den Sorgen in Großbritannien kamen die Sorgen um die Eltern hinzu, von denen die Nachrichten immer spärlicher wurden und schließlich ausblieben. Die OSE betrieb die Rettung von Kindern nach Frankreich bzw. in Frankreich. Der sozialistische Pädagoge Ernst Papanek wurde mit dem Ausbau und der Leitung eines Kinderheimes’' in Montmorency, ca. 16 Kilometer nördlich von Paris, betraut, in dem Kinder aus Deutschland zwischen drei und fünfzehn Jahren zunächst ab Februar 1939 untergebracht wurden. Die Idee des Heimes war, die Kinder nach einem einjährigen Aufenthalt in öffentliche Schulen zu integrieren, „nachdem sie in einer Atmosphäre der Gemeinschaft die Chance erhalten hatten, wieder Kind zu sein, Französisch zu lernen und sich auf ein neues Leben ohne Familientradition und verbindungen vorzubereiten, und nach Prinzipien des Arbeitsunterrichts unterrichtet worden waren.‘“” Das heißt: hier fanden die Kinder andere Voraussetzungen als diejenigen, die mit den Kindertransporten nach England gekommen und dort zum Teil in christlichen Pflegefamilien untergekommen waren. Bei Ernst Papanek wurden die nach jüdischen Glaubensgesetzen erzogenen Kinder in einem gesonderten Heim untergebracht, in dem ihre religiöse Erziehung fortgesetzt und die Speisegebote eingehalten wurden. Nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen flohen die Heimkinder nach Südfrankreich. Papanek bemühte sich, die Kinder in die USA zu retten. Die zögerliche Haltung der USA führte dazu, daß ein Teil der Kinder zurückblieb, von denen 100 ermordet wurden.” Die OSE konzentrierte sich jetzt darauf, Kinder aus den französischen Internierungslagern, insbesondere aus Rivesaltes, dem Sammellager für alle Flüchtlingskinder ohne Eltern, zu befreien. Die Kinder sollten zunächst in Heimen oder Familien untergebracht werden, nach Einsetzen der Deportationen sollten sie versteckt und durch Flucht in die Schweiz gerettet werden. Ernst Papanek konnte sein Kinderheim-Konzept in den USA jedoch nicht durchsetzen: Dort wurden die Kinder von Familien adoptiert. Was folgte, war ein völliger Bruch mit der Vergangenheit. Dieser Bruch führte bei den Kindern erneut zur Isolierung und verdrängte Kindheitserfahrungen. Erst Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte später, konnten diese Exilierten ihre Erfahrungen aufarbeiten. 1945 war für die meisten Kinder ein problematischer Neubeginn: Die Kinder, die mit Kindertransporten exilierten, hatten, wenn ihre Eltern überlebt hatten, zum Teil keine Erinnerung mehr an diese und betrachteten ihre Pflegefamilie als ihre ‚richtige’ Familie. Sie erkannten bisweilen ihre Eltern nicht einmal wieder: „Entschuldigung, gnädige Frau’, sagte er sichtlich verlegen, ‚sind Sie vielleicht meine Mama?’ Diese Frage meines Sohnes setzte den Schlußpunkt unter die Geschichte meiner Emigration und den Beginn zu einem neuen Lebensabschnitt in der Heimat.‘“* Erneut wurden sie aus einer gewohnten Umgebung herausgerissen, erneut in eine ihnen fremdgewordene ‚verpflanzt’, die nicht einmal mehr ihre Sprachheimat geblieben war: „Wir fuhren nach Paris, um Kurt zu seinen Eltern zu bringen. [...] Kurt war schrecklich traurig. man kann sich das vorstellen. [...] Er wollte nicht gehen. Er wollte nicht zu ihnen.‘ Auch Ernst Papanek machte ähnliche Erfahrungen mit ‚seinen’ Kindern: diese wollten ihre leiblichen Eltern nicht mehr in ihrer Nähe haben, es genügte ihnen lediglich, diese in Sicherheit zu wissen, eine Gefühlsregung, die Papanek nur schwer akzeptieren konnte.” Zu Schluß ein Gedicht von Hertha Freund’, geschrieben im Internierungslager, ein Gedicht, das die Situation der Kinder im Exil, in dem die Kindheit verloren gegangen war, eindringlich darstellt: Ein Emigrantenkind spricht Heut’ spreche ich die vierte Sprache und bin in einem dritten Land, wo ich mir vielen Kummer mache, was aus mir wird, bleibt unbekannt. Ich fühl’ es ja, wir müssen wieder wandern, denn meine Mutter weint jetzt oft und viel, ich sehe traurig auf die Glücklichen, die Andern, und denk an unser nächstes Reiseziel, und an die fremden, großen Städte, und an den Hunger, den man abends hat, ach wenn ich einen Freund doch hätte, ich hab’ die Einsamkeit so satt. Wohin nur werden wir nun fahren? Läßt man uns bleiben, wo wir sind? Ich bin schon müde von den sieben Jahren, und nicht mehr froh, ich bin ein Emigrantenkind.* 31