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Meine Cousins wurden von ihm auf ihre Bar Mizwah vorbereitet. Außerdem schachtete er regelmäßig Fleisch und Geflügel für die jüdischen Familien von Zurndorf und Umgebung in Onkel Nathans Fleischerei. Obwohl wir niemals einen orthodoxen Haushalt geführt haben, gehörte es zur Tradition, nur rituell geschlachtetes Fleisch und Geflügel zu essen. Die hohen Feiertage waren für uns Kinder eine willkommene Abwechselung vom Alltag. In Gattendorf trafen wir andere Kinder jüdischer Familien; gelegentlich waren auch Kinder aus dem entfernten Bratislava, sogar aus Budapest darunter. Während unsere Väter beteten, hatten unsere Mütter alle Hände voll zu tun, uns mit Leckerbissen zu versorgen, die bereits vor Beginn der Feiertage nach Gattendorf geschafft wurden. Auch ein Besuch in Gattendorf beim Zahnarzt Grünfeld war fast so aufregend wie eine Reise nach Wien. In Ermangelung einer jüdischen Schule besuchten wir in Zurndorf die evangelische Volksschule. Damals gab es in Österreich noch konfessionelle Schulen. Alle jüdischen Kinder von Zurndorf besuchten die evangelische Schule, das war schon bei meinem Vater und seinen Geschwistern so gewesen. Eine besondere Auszeichnung war es, wenn uns der Lehrer erlaubte, am evangelischen Religionsunterricht teilzunehmen. Unsere Eltern sahen das nicht gern, sie untersagten es aber auch nicht. Sie hatten sogar nichts dagegen, wenn wir zu Feierlichkeiten (wie z.B. dem Muttertag) die evangelische oder katholische Kirche besuchten. Den (katholischen) Kindergarten durften wir freilich nicht betreten, so daß sich am Ende doch eine Abgrenzung von den gleichaltrigen Kindern im Dorf ergab. Nur vereinzelt hatten wir später näheren Kontakt zu Klassenkameraden oder zu Nachbarkindern. Der Grund mag gewesen sein, daß meine Eltern uns vor antisemitischen Äußerungen abschirmen wollten, was ihnen freilich nicht gelang. Ich entsinne mich ganz deutlich, daß ich 34 bereits vor Schulschluß 1933 aus der Schule genommen wurde, da ich schon damals sehr unter der Diskriminierung leiden mußte und immer wieder als „Judenbengel“ beschimpft wurde. Auch mein Bruder hatte ein entsprechendes Erlebnis. Er muß ungefähr sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, also war es 1933 oder 1934. Mitten in einer Unterrichtsstunde drehte er sich wortlos um und verabreichte seinem Hintermann und Namensvetter Fritz T. eine derbe Ohrfeige. Vom Lehrer zur Rechenschaft gezogen erzählte er, Fritz habe ihn gehänselt und einen Judenbengel geschimpft; worauf der Lehrer meinte, Strafen habe er, der Lehrer, zu erteilen; die Antwort meines Bruders war, der Lehrer würde den Jungen nur „verwarnen“, was bald wieder vergessen sei. Eine Ohrfeige würde vielleicht gemerkt werden und Wirkung haben. Der gleiche Lehrer war es dann, der einige Jahre später unser Haus „arisierte“. Noch einige Jahre später, 1946, verlangte er von mir eine eidesstattliche Erklärung, daß er immer gut zu uns gewesen sei. Fritz T. war der Sohn eines damals schon ortsbekannten Nationalsozialisten, eines Tierarztes, der später bei einem Duell zu Tode kam. Von einem Kulturleben konnte man in Zurndorf nicht sprechen. Gelegentlich fuhr man nach Wien ins Theater. Man lud sich Besuch von Verwandten und Bekannten ein, auch von sozusagen suspekten Ausländern wie z.B. einem Japaner. Man bezog seine kulturellen Informationen aus der Zeitung und dem Radio. Wir hörten zuweilen ausländische Sender, was meinem Vater dann nach dem Einmarsch der Hitlertruppen einige Monate „Schutzhaft“ einbrachte. Er stand in dem Ruf, er habe gegen Hitler konspiriert, dabei war er ein eher unpolitischer Mensch. Nur die Umstände zwangen ihn, Stellung zu beziehen. Wir wurden im Dorf geduldet, angefeindet, vielleicht beneidet. Meine Mutter hatte wohl mehr politischen Weitblick als mein Vater. Sie wollte ihn im Februar/März 1938 überreden, für ein paar Wochen zu verreisen — „nur in die Tschechoslowakei, um abzuwarten“. Bei dieser Gelegenheit könne man etwas Geld mit hinausnehmen. Man wisse ja nicht, was da auf einen zukomme. Mein Vater reagierte schroff. Wie man in so einer Situation seinem Lande den Rücken kehren könne! Dem Lande Geld, das es benötige, wegzunehmen! Man müsse jetzt im Gegenteil beweisen, wie patriotisch man sei, ihm und der Familie könne überhaupt nichts passieren. In Zurndorf, wo er jeden Bewohner kenne, wo er mit den Männern des Dorfes im Ersten Weltkrieg gekämpft habe, sei er am sichersten, man werde ihn gewiß schützen! Er sollte der einzige der Brüder Spiegl sein, der eines anderen belehrt wurde. Noch ehe die deutschen Truppen in Wien einmarschierten, saß er bereits in „Schutzhaft“. Mit dem eigenen Auto fuhr er zum Bezirksgericht nach Neusiedl am See. Mit dem „grünen Heinrich“ kam er dann ins Landesgericht nach Wien. Wir sahen ihn erst im Sommer wieder. Noch immer glaubte er, nur einige „Unverbesserliche“ hätten ihn denunziert. Er durfte nicht mehr nach Zurndorf zurückkehren. Unser gesamter Besitz wurde „arisiert“ — von ehemaligen Freunden, Bekannten und Mitschülern. Meiner Mutter zogen sie nach einer Hausdurchsuchung zum Schluß noch den Ehering vom Finger. Einige im Dorf, wenige, schämten sich für die Taten ihrer Nachbarn. Sie schämten sich auch, die einst so angesehene Familie Spiegl zu unterstützen. Sie schlichen nachts heimlich zu unserem Haus und legten dort Lebensmittel, Brot und Geld auf die Schwelle. Anonym sandten sie uns Eßpakete, als wir aus Zurndorf ausgewiesen wurden und in Wien bei der