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Schwester meiner Mutter Zuflucht fanden. Sie hatte gleich uns ihre Wohnung verloren und lebte mit uns allen in einer ZimmerKüche-Wohnung im 20. Wiener Gemeindebezirk. Ich mußte die Schule verlassen und hatte das Glück, bei einer jüdischen Firma Lehrling zu werden. Mein Bruder, einst Vorzugsschüler im Realgymnasium des Bundeskonvikts Eisenstadt, konnte das Chajes-Gymnasium besuchen. Pausenlos wurde beraten und diskutiert, wohin man fahren könnte und welches Land Unterschlupf gewähren würde. Mein Weg zu meiner Lehrstelle führte an einer SS-Kaserne vorbei, sie war in einer ehemaligen Schule in der Grünentorgasse untergebracht. Mehrmals lauerten mir SS-Männer auf, um mich zum Reinigen in die Kaserne zu holen. Angst haben war eine Sache, sie zu zeigen eine andere. Ich wollte durch Fleiß und Eifer alles überspielen. Ich glaubte, ich könnte durch Stolz imponieren. Ich entsinne mich noch eines jungen SSMannes, dem ich vielleicht leid getan habe. Einmal forderte er mich barsch auf, ihm zu folgen. Ich war auf das Schlimmste gefaßt. Er führte mich in ein Zimmer und gab mir dort Uniformjacken. Ich mußte darauf Knöpfe und Abzeichen annähen. Er fragte mich nach meiner Adresse. Als ich sie ihm nicht geben wollte, sagte er mir leise, er wolle meine Eltern verständigen, damit sie sich keine Sorgen machten. Ich glaubte ihm nicht. Er tat es dennoch. Nachdem mein Vater verhaftet worden war, betrieb meine Mutter energisch die Ausreise. Mein Vater, ein unerschütterlicher Optimist, wäre am liebsten nur nach Hegyeshalom oder Bratislava gefahren, um schnell wieder zu Hause sein zu können, wenn der Spuk (so sagte er) vorbei sei. Im November 1938, in der „Reichskristallnacht‘, wurde er wieder verhaftet. Meine Mutter versuchte alles, ihn freizubekommen. Er war diesmal auf der Rossauerlände, dann wieder im Landesgericht. Mutter erreichte eine Vorsprache bei der Gestapo am Morzinplatz beim Referenten für die burgenländischen Juden. Einige behaupten, der Name dieses Mannes sei Hoess gewesen, andere nannten den Namen Adolf Eichmann. Meine Mutter versprach, innerhalb einer bestimmten Frist Österreich zu verlassen, wenn mein Vater aus der Haft entlassen werde. Vorher wollte sie aber meinen Bruder und mich in Sicherheit bringen. Sie verschaffte uns Plätze auf einem Kindertransport der Kultusgemeinde nach England. Ein Cousin hatte dort Familien gefunden, die uns aufnehmen wollten. Im Februar/März 1939 verließen mein Bruder und ich Österreich. Meine Mutter hatte einen bolivianischen Konsul bestochen und erhielt Visa nach Bolivien. Dort lebten meine Eltern bis 1943. Meine Mutter hat sich auf der extremen Höhe und durch die schwere Arbeit ihre Gesundheit ruiniert. Ein uruguayischer Diplomat hatte Mitleid mit ihr und nahm sie mit nach Montevideo. Sie konnte sich nicht mehr erholen und starb 1952 an einem schweren Herzleiden, das sie sich in Bolivien zugezogen hatte. Die übrige Familie meines Vaters erhielt Visa für die USA oder Kanada. Mein Vater jedoch erhielt dort keine Einreiseerlaubnis, weil er als ,,Krimineller“ galt — er war im Landesgericht gewesen und nicht im KZ, also war er ein Verbrecher und nicht bloß ein Jude. Meine Cousins und Cousinen leben heute fast alle in den USA. Die Generation meiner Eltern, ausgenommen zwei hochbetagte Tanten, ist tot. Mein Vater ist nach dem Tod meiner Mutter als einziger der Familie wieder nach Österreich zurückgekehrt. Er lebte dort von 1954 bis 1967. In Zurndorf mochte er nicht mehr sein, ob wohl er vielleicht gern dorthin zurückgekehrt wäre. Er konnte, glaube ich, nur schwer verwinden, daß die Bevölkerung eines Dorfes, in dem er aufgewachsen war, dessen katholische und evangelische Kirchen seine Eltern mit Kirchengeläut zur letzten Ruhe nach Gattendorf geleitet hatten, ihn ganz einfach nicht mehr zu den ihren zählte. Abschied und Ankunft Vor einigen Wochen sah ich eine englische Dokumentation über Kindertransporte aus Österreich und Deutschland nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich. Weil ich selbst mit einem Kindertransport nach England kam, wurden Erinnerungen wach, die ich hier festhalten will Es war ein kalter nebliger Tag im Februar 1939 als die Nachricht kam, daß mein Cousin Fredl für mich einen Platz bei einer englischen Familie gefunden habe. Wir warteten also gespannt auf die Nachricht der Kultusgemeinde, wann ich die Reise antreten könne. Meine Eltern entschlossen sich, meinen Bruder Fritz und mich nach England zu schicken, um uns dort die Schule besuchen zu lassen, während sie für viel Geld, das wir kaum noch hatten, ein Visum nach Bolivien erstanden. Doch erst wollten sie ihre Kinder in Sicherheit wissen. Endlich kam die ersehnte Nachricht. Am 20. Februar 1939 sollten wir uns um 20.00 Uhr am Westbahnhof in Wien einfinden. Meine Eltern, mein kleinerer Bruder und mein Cousin Bandy (heute Andrew genannt) begleiteten mich. Ich durfte nur ein Gepäckstück mithaben, das ich selbst tragen konnte. Was sich vor dem Zug abspielte, läßt sich schwer beschreiben: Dutzende Kinder von drei bis fünfzehn Jahren waren für die Reise vorgesehen. Die Abschiedsszenen waren herzzerreißend. Kinder wollten ihre Eltern nicht verlassen, Eltern rieten, ihre Gefühle verleugnend, ihren Kindern wegzufahren, weil sie wußten, daß das ihre Rettung bedeutete. Und dann setzte sich der Zug in Bewegung. Wir älteren Kinder (ich war immerhin schon 15 Jahre alt) halfen den Begleitern, so gut wir konnten, die Kleinen zu beruhigen, bis sie sich in den Schlaf weinten. Wir fuhren durch Deutschland, wurden einige Male kontrolliert, was jedes Mal Aufregung bedeutete, weil wir ja nie wissen konnten, welche Schikane sich die Deutschen nun ausdachten, 35