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um uns die Reise zu erschweren oder gar unmöglich zu machen. Und dann kam auf einmal die Nachricht: Wir haben die Grenze passiert und halten an der ersten Station in Holland. Freundliche Menschen begrüßten uns, brachten Weißbrot, Butter und Kekse mit, die Kleineren bekamen Spielsachen, und wir hatten nach der langen anstrengenden Reise endlich das Gefühl, frei zu sein und keine Hanny Hieger, 1938. Foto: H. Hieger Angst mehr haben zu müssen. Die Stimmung hellte sich auf, wir sangen mit den Begleitern und beschäftigten die Kleinen. Irgendwann erreichten wir Hoek Van Holland und bestiegen die Fähre nach England. Wir waren so müde und erschöpft, daß mir die Schiffsreise kaum in Erinnerung ist. Und dann landeten wir in Dover. In meinem Gedächtnis haben sich bis heute die weißen Felsen eingeprägt, die mich immer an meine Ankunft in England erinnern. Dann endlich erreichten wir London, Liverpool Street Station. Nach der langen und anstrengenden Reise waren alle ziemlich erschöpft. In Autobussen wurden wir in eine große Halle gebracht, wie sie in vielen englischen Kirchen zu finden ist. Wir wurden überaus freundlich aufgenommen und bewirtet. Unsere persönlichen Daten wurden registriert. Wir alle, ob groß oder klein, hatten Tafeln mit unseren persönlichen Daten um den Hals hängen und, falls vorhanden, eine Kontaktadresse, denn nicht alle wußten, wo sie landen würden. Einige hatten Glück (darunter ich) und wurden von Bekannten oder Verwandten abgeholt. Die anderen blieben in der Halle zurück bis Menschen kamen, um sich ihre ,,Gastkinder“ auszusuchen. Heute erinnert mich diese Prozedur an einen Marktbetrieb, wo man Dinge je nach Bedarf oder Geschmack aussuchte. So hatten z.B. Kinder, die besser gekleidet waren oder hiibscher aussahen, größere Chancen, mitgenommen zu werden. Die anderen kamen in Jugendheimen unter, die im ganzen Land verteilt waren und von jüdischen Gemeinden oder caritativen Institutionen wie z.B. den Quäkern bestens betreut wurden. Ich hatte, wie gesagt, Glück. Mein Cousin Alfred holte mich bald ab, und wir fuhren in das „Lyons Corner House“, einen überaus beliebten Treffpunkt von Emigranten. Er bewirtete mich, bevor er mich zum Zug brachte, der mich zu meiner Gastfamilie Jones nach Cheadle Hulme, einem kleinen Ort in der Grafschaft Cheshire, bringen sollte. Ich wurde also in ein Abteil verfrachtet, als Reiseproviant hatte ich einen Penny, mit dem ich eine Tasse Tee und eine Art Kuchen kaufen konnte. Mein Englisch war ungenügend, ich war traurig und verzweifelt, und alle Bemühungen der Mitreisenden, mit mir ins Gespräch zu kommen, schlugen fehl. Ich drückte mich in eine Ecke und schloß die Augen, weil ich glaubte, dadurch meine Tränen verbergen zu können. Die Leute im Coup& merkten wohl, daß mit mir etwas nicht stimmte. Sie redeten auf mich ein, fütterten mich mit Schokolade, kauften mir Tee. Aber mir war so elend zumute, daß ich nur noch mehr heulte. Nach einigen Stunden, ich erinnere mich nicht mehr wie viele es waren, kam ein Bahnbediensteter, schnappte meinen Koffer und mich, und wir stiegen aus. Später erfuhr ich, daß 36 dies in dem Ort Crewe war, einem der wichtigsten Umsteigeplätze im Norden von England und Ausgangspunkt aller lokalen Züge in die nähere Umgebung. Der Bedienstete brachte mich in einen Wartesaal; er lag in düsterem Licht, das Feuer im offenen Kamin war schon fast heruntergebrannt. Er hieß mich warten, und das dauerte für mich eine Ewigkeit. Kein Mensch weit und breit, Nieselregen, alles kaum dazu angetan, meine Stimmung zu heben und meine Ängste zu verringern. Dann kam der Mann zurück, schnappte meinen Koffer und führte mich zu einem Regionalzug, dessen Waggons von beiden Seiten betretbar waren. Ich hatte plötzlich riesige Angst, nun dort eingesperrt zu werden und nicht einmal eine Toilette aufsuchen zu können. Es war mittlerweile spät abends. Kein Mensch im Abteil, und ich wußte nicht, wohin die Reise gehen sollte, zumal ich nur einen Hinweiszettel hatte, zu einem Mr. Jones in Cheadle Hulme zu fahren. Jones ist bekanntlich ein Walliser Name, von dem es Hunderte, wenn nicht Tausende gibt. Als ich am Zielort angelangt war, zog ich meinen Zettel aus der Tasche, mit dem der Bahnbedienstete nicht viel anfangen konnte, weil kein Vorname meines „Pflegevaters“ angegeben war. Also setzte er sich ans Telefon und begann der Reihe nach die Jones in Cheadle Hume anzurufen und sich zu erkundigen, ob sie zufällig ein Refugeekind erwarteten. Zum Glück hieß mein Gönner Arthur und nicht Zacharias... Es war stockdunkel, regnete, schneite und nieselte zugleich. Man schob mich in ein Taxi, um mich in mein neues Heim zu bringen. Es war eine Riesenvilla, ein richtiger englischer Landsitz in einem großen Park. Mrs. Jones, eine hagere Engländerin, die ein wenig deutsch sprach, sagte mir, daß Mr. Jones seit Stunden auf dem Hauptbahnhof in Manchester vergeblich auf mich gewartet hätte und nun bald nach Hause kommen würde. Dies war im doppelten Sinne Ende und Anfang meiner Lebensodyssee. Seitdem lebe ich immer irgendwie auf der Flucht. Hanny Hieger, geb. 1923 in Wien, verbrachte ihre Kindheit bis 1933 in Zurndorf (Burgenland); der politischen Umstände wegen und angesichts antisemitischer Strömungen schickten sie ihre Eltern nach Wien zur Schule. Im Februar 1939 gelang es ihren Eltern, sie und ihren Bruder Fritz mit einem Kindertransport nach England zu schicken, in der Hoffnung sie später zu sich nach Bolivien zu holen, wohin sie durch Bestechung emigrieren konnten. Der Krieg, machte dieses Vorhaben zunichte. H.H. schloß sich in England der Jugendbewegung „Young Austria“ an. 1942 heiratete sie und bekam im Februar 1944 ihre Tochter Marion. Die Ehe ging aber, kurz nachdem sie 1946 nach Österreich zurückkehrte, in die Brüche. Ihre Eltern, denen es gelang, von Bolivien nach Uruguay zu übersiedeln, nachdem die Mutter schwer erkrankte, holten sie 1951 mit ihrem Kind nach Montevideo. Kurz darauf starb die Mutter und H.H. blieb in Südamerika. Nach ihrer Eheschließung mit Erwin Hieger, reisten sie in verschiedene südamerikanische Länder, wie Argentinien, Brasilien und Peru. H.H. arbeitete als Fremdsprachensekretärin und Übersetzerin in verschiedenen Privatfirmen und bei verschiedenen Entwicklungsprojekten der Vereinten Nationen. Nach insgesamt 17 Übersiedlungen kehrte sie 1970 nach Österreich zurück und erhielt eine Anstellung im Außenministerium. Wieder übersiedelte sie. Diesmal für vier Jahre nach Kolumbien und arbeitete dort an der österreichischen Botschaft. Im Jahre 1976 strebte sie eine Versetzung an die Botschaft nach Ostberlin an, wo sie bis zu ihrer Pensionierung blieb. H.H. lebt heute in Wien.