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Es war abends um halb acht als ich zum Westbahnhof in Wien ging. Genau vor einem Jahr hatte Hitler das beschauliche Leben in Österreich gestört und viele Menschen unglücklich gemacht. Als wir am Bahnhof ankamen, sah ich viele Kinder mit einem Koffer in der Hand und einer Nummerntafel umgehängt. Sie waren entweder mit ihren Eltern da oder auch allein. Alle anderen Leute, die Nazis waren, waren an diesem Tag glücklich, nicht aber die Eltern dieser Kinder, die nun weit weg fuhren. Die Nazis sangen und marschierten in den Straßen. Der Zug fuhr ein, und die Kinder stiegen ein. Es gab ein eifriges Händeschütteln, und nach einigen Minuten setzte sich der Zug in Bewegung. Taschentücher flatterten, und dann schien sich die Stadt Wien rückwärts zu bewegen. Das war abends um elf Uhr. Fünf Minuten später witzelten die Jungen herum und waren glücklich. Ich war ziemlich überrascht. Vor ein paar Tagen hatte ich noch krank im Bett gelegen und viel Zeit gehabt über alles nachzudenken. Ich hatte angenommen, daß Kinder weinen würden oder ähnliches. Aber das tat zum Glück niemand. Ich stand meistens am Fenster und schaute in die Landschaft, die jedenfalls wunderschön war. Ich schlief überhaupt nicht, ich stand nur am Fenster und schaute und dachte über die „kultivierten“ Deutschen nach. Nach anderthalb Tagen kamen wir nach Emmerich an der deutsch-holländischen Grenze. Dort wurden wir mit Limonade und süßen Brötchen beschenkt. Dann fuhr der Zug über die Grenze. Eine Wärmflasche wurde aus dem Abteilfenster geworfen, leer selbstverständlich, denn Wasser war im Zug sehr wertvoll und wir konnten auf keinen Tropfen verzichten. Wir kamen durch Utrecht und Rotterdam und schließlich nach Hook van Holland. Dort gingen wir an Bord der „Amsterdam“ und sofort zu Bett. Bald legte das Schiff ab. Nach einer halben Stunde wurde der Junge im Bett neben mir seekrank. Er fragte mich: „Fritz, wie ist das, wenn man seekrank ist?“ Ich erklärte es ihm Munk Jiav, Theresienstadt Heim L 417 Foto: Jiidisches Museum Prag Fremdenpaß des 6jährigen Kurt Hochstein, 1939 Foto: Österreichische Exilbibliothek und schlief dann ein. Am nächsten Morgen lag unser Schiff im Hafen und die Seeleute erzählten uns, daß in der Nacht ein sehr schwerer Sturm getobt habe. Das wußten wir nur zu gut, denn die Wellen hatten die ganze Zeit gegen die Kabinenwand geschlagen. Es war schrecklich laut. Im Zug in Harwich war ich überrascht, daß die Sitze der dritten Klasse mit Stoff überzogen waren. In Deutschland gab es nur Holzbänke. Nach zwei Stunden kamen wir in London an, wo wir in einem Boxstadion auf die Leute warteten, die uns abholen sollten. Aus dem Englischen übersetzt von Bruni Blum. Entstanden 1939 als Schulbericht des damals 12jährigen Fritz Spiegl am Magdalen College School in Brackley. . | a 2 perme LET 1 609 “