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An dem ländlichen Bahnhof wird mich wie immer mein guter Onkel erwarten. Die Droschke mit dem Brummbär von Kutscher wird vor dem Bahnhof stehen; der rauhe Kutscher, der meinem Onkel so ergeben ist, daß er neben ihm wie ein zahmer Bär wirkt, der seinem Dompteur aus der Hand frißt. Irgendein dunkles Geheimnis muß diese beiden verbinden, mein Onkel muß ihn einmal vor dem Gefängnis bewahrt haben, denke ich, während ich auf die Kutsche zugehe. Unter seinem großen Schnauzbart brummt der Kutscher ein Willkommen, das höchste seiner Zugeständnisse an Freundlichkeit, und los geht die Fahrt über katzbucklige Pflastersteine an kleinen Vorstadthäusern vorbei, an deren Staketenzäunen Sonnenblumen und Kapuzinerkresse wachsen. Ich atme tief die Luft ein, die reine Luft der Kornfelder und Gemüseäcker, die sich so weit das Auge reicht erstrecken. Nun werden die Häuser stattlicher, wir nähern uns dem großen Ring mit seinen Geschäften, dem Mittelpunkt der Kreisstadt. Dem Rathaus gegenüber wird die Droschke vor dem Haus meines Onkels anhalten, dem Haus, in dem mein Vater geboren wurde. Wir werden erst in das Geschäft im Erdgeschoß hineingehen, in dem es so viele wunderbare Dinge gibt wie Messingringe mit rubinroten, smaragdgrünen und kobaltblauen Steinen, Spielzeugautos, die man aufziehen kann (und sie fahren!), glänzende Messinglampen und Brillen, die man selbst aufprobiert. Meine Tante wird im Geschäft sitzen, mich liebevoll umarmen und ins obere Stockwerk führen, wo mich Großmutter schon erwartet. Das ganze Haus wird von Kuchenduft erfüllt sein, Streusel-, Pflaumen- und Apfelkuchen, die man mir zu Ehren gebacken hat. Bis zum Abendbrot ist es noch Zeit, und so wird Großmutter an ihrem gewohnten Fensterplatz im Lehnstuhl sitzen, ich auf dem Schemel zu ihren Füßen, und sie wird mir Geschichten erzählen, wie nur GroBmiitter sie erzählen können. Wenn es die richtige Jahreszeit ist— Sommer — wird der Birnbaum im Hof sich unter der Last seiner Früchte biegen. Er reicht bis zum Fenster, an dem wir sitzen. Nun werden Onkel und Tante heraufkommen, die Gaslampen werden zischend angezündet, das Abendbrot wird serviert, wir werden alle gemütlich beisammen sitzen, und nun werde ich viel zu erzählen haben. Später werde ich unter dem kuscheligen Federbett einschlafen, glücklich über so viel Fürsorge und Liebe. Wenn ich will, kann ich jederzeit zurückkehren - in meinen Wach- und Nachtträumen. Denn in dem Haus wohnen Fremde, meine Großmutter ist schon längst tot, mein Onkel und meine Tante wurden in einem Todeslager umgebracht — und ich bin kein Kind mehr. Aus dem Paradies der Erinnerung jedoch kann uns niemand vertreiben. Die komische Oma Eine komische Oma hat die Noa. Immer wenn die Oma kommt ruft Noa: Oma komm nicht in mein Zimmer hier, ein Löwe ist bei mir. 38 Die Oma erschrickt ganz fürchterlich, ins Zimmer zu kommen wagt sie nicht. Da lacht die Kleine: komm ruhig zur Tür, der Löwe ist nur aus Papier! Eine komische Oma hat die Noa. Immer wenn die Oma kommt will Noa mit ihr im Flugzeug nach Paris. Die Oma sagt: Das kostet viel Geld und wir haben noch keine Flugkarten bestellt. Da zeigt Noa der Oma, daß man bloß die Arme hebt und se se se sagt und sich schon das Flugzeug bewegt. Eine komische Oma hat die Noa. Immer wenn die Oma kommt sagt Noa ihr: nach Paris fahren wir. Die Oma meint: aber Paris ist weit von hier, denn sie vergiBt, daß Paris natürlich auf dem kleinen Teppich ist. Eine komische Oma hat die Noa. Immer wenn sie kommt, sagt Noa: mach es mir nach vielleicht, auf dem Kopf zu stehn das ist ganz leicht. Aber für die Oma ist das zu schwer. Sie meint wenn sie jünger wär. Der Noa ist das nicht so klar, denn die Oma ist doch noch nicht siebzig Jahr. Eine komische Oma hat die Noa. Immer wenn sie kommt soll die Oma ein kleines Hündchen sein, auf allen Vieren am Hals einen Strick, das bellt wie verrückt. Da sagt die Oma: nein, sie war schon mal ein Hündchen klein und ihre Knie sind noch wund, heiser vom Bellen ist ihr Mund. Sie will kein Hiindchen mehr sein.