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Im BEPOKO (Bezirkspolizeikommissariat): „Es wurde Auftrag gegeben, alle Juden Wiens zu verhaften.‘“ — Die Lastwagen zum Transport der Verhafteten stellten SS-Verfügungstrupps zur Verfügung. Zivilisten waren bei der ganzen Sache nur als Zuschauer vorhanden. Die Wirkungen des 10. Novembers waren noch lange nachhaltig sichtbar. Juden mit bandagierten Köpfen, vollständig zertrümmerte Geschäfte — leer. - M. berichtet am Nachmittag des 11. Novembers von den Hausdurchsuchungen: Gefragt wurde nach Waffen, Gold, Devisen. Wenn das hergegeben wurde, so wurde weiters nichts gemacht. Safes wurden durchsucht. Eine Frau markierte Herzkrämpfe, wälzte sich auf dem Boden - die Durchsuchungsbande zog ab —, kaum waren sie aus der Tür heraus, verstummte das Schreien. — Sie kehrten zurück - raubten alles. Elisabethpromenade und alle anderen Gefängnisse waren überfüllt. E.’ erzählt von einem Parteilokal: „Ach, dort war es ja noch viel ärger.“ — Doch ach, was alles sollte nicht noch diesem einen brutalen Knutenhieb der Bande folgen. (In einer Kaserne wurden die Gefangenen an die Wand gestellt: 1, 2, 3 zurücktreten — 1, 2, 3 zurücktreten — 1, 2, 3 zurücktreten und die Dreier wurden alle nach Dachau befördert.) Gott, wie schreit in dir das Herz auf, wenn du weiteres hörst, von Angst, von Pein rings bist du umschlossen von diesen Männern, die nichts als die Peitsche, das Konzentrationslager und den Tritt mit den Röhrenstiefeln für dich übrig haben, die dich höhnen, verspotten, denen dein Schicksal gleichgültig ist, denen du verhungern oder dich aufhängen kannst, es ist denen gleich, so jung bist du noch und solche Lasten bürdet man schon auf dich, rechtlos zu sein, ein Spielball der Launen und der Willkür deiner Feinde, elendstes Schicksal, verfluchtes Geschick. Ach wie hat es die Jugend herrlich, die da irgendwo draußen geboren in Frankreich, England oder Amerika in Freiheit, ohne Angst und Tränen leben darf und kann. Ein Leben draußen wie leicht, wie ungehemmt, es ist unglaublich, Gott, wenn du doch dort sein dürftest, leben dürftest dort drüben im goldenen, fernen Lande. Einmal nur fort, ach gib mir das. Doch hier, wie kann ich jemals hier glücklich sein, lachen. Wie? So sag’ es doch. — Sieh’ sie dir an! Da gehen sie! Unberührt, als ob ein Kummer wie der deine oder der deiner Mutter und Geschwister und Verwandten und der 100.000 anderen gar nicht existieren würde. Hier die Zeitung! Die Überschriften prahlen, höhnend stolz auf die brutale Gewalt, die sie in den Händen haben. [...] Neue Vorschriften bezüglich der Reichsfluchtsteuer’ fiir Juden, neues Reichsgesetzblatt soundso (Göring verkündet nach dem 10. November 38, daß die Juden Deutschlands eine Milliarde Reichsmark als Sühne zahlen müssen - in vier Raten je 250.000.000 RM). Die Ausstellung „Der ewige Jude“ in der Nordwestbahnhalle hat starken Zulauf der Wiener Bevölkerung, in derselben Halle findet etwas später die Ausstellung „Bolschewismus ohne Maske“ (mit Bildmaterial) statt. Für Auswanderung begann ich mich von dem Moment an heftigst zu interessieren, als der 10. November bei mir keinen Zweifel übrig gelassen hatte, daß ich gehen müßte, unter allen Umständen. Mama hatte mich und uns alle schon recht früh bei der Society of Friends (Quäker), Wien I, Singerstraße 16, angemeldet. Im Jänner 39 ging ich öfters nachfragen hin, ob sich nicht irgendwo eine neue Chance für mich zeigen könnte. Man hielt ein Farmingscheme” fiir aussichtsreich und ich registrierte dafür, man versprach, Anfang oder Mitte Februar Nachricht für mich zu haben. Man lud mich sogar zu einer ärztlichen Untersuchung ein, die auch stattfand, ich hinterließ dort mehrere Fotographien mit Name und Adresse auf der Rückseite. Es 40 waren dort hauptsächlich Engländer beschäftigt, die sich äußerst nett benahmen, ich muß sagen, daß ich mich dort stets wohl fühlte, es war eine Vorstufe zu England, wo man Englisch sprechen hörte, Engländer(innen) sah, auch solche Zeitungen waren dort zu sehen, und es ging dort vornehmer und ruhiger als in anderen Auswanderungsämtern wie bei Gildemeester in der Wollzeile 7 zu, wo man einen Großteil der Verfolgten Wiens traf. 23.2.41 [Datum der Niederschrift, angeführt von R.E. im Manuskript, Anm. M.K.] Es war gerade dieser Ort, der mir immer so überaus deutlich das menschliche Elend unserer Tage vor Augen brachte. In meinem Notizbuch habe ich diese Auswanderungshilfsstelle mit den Buchstaben GM verzeichnet, und ich will ihr, der ich überaus viel für das Zustandekommen meines Verlassens von Deutschland verdanke, hier den Platz widmen, den sie verdient und den sie in meinen Erinnerungen an diese schrecklichen Monate einnimmt. Das Gebäude ist schon ziemlich alt und springt aus der Häuserzeile hervor, um so die ohnedies enge Straße noch mehr zu verengen. Der Gehsteig dort ist nicht breiter als ungefähr einen Meter. In dem Haus sind eine (Noten)buchhandlung und noch ein oder zwei weitere Geschäfte. In dem niedrigen Hausflur ist holpriges Steinpflaster, und eine Glastür führt in einen kleinen, quadratischen Lichthof. Im Hausflur selbst ist eine Anzahl Plakate angeschlagen, die Hinweise auf Parteienverkehr etc. etc. geben. Eine enge Wendeltreppe führt links hinauf. Am Fenster ist rechts eine Portierloge, bei der Nummern ausgegeben und Auskünfte erteilt werden. Der Parteienverkchr ist ständig sehr stark, Leute eilen die Treppen auf und ab, stehen in den Gängen und den Warteräumen, sprechen miteinander, fragen um Rat, tauschen Erfahrungen und Erlebnisse aus, sprechen über Paß,'' Steuerunbedenklichkeit, Visa, Einreisebewilligung, Konsulate, Devisenbestimmungen, Reichsfluchtsteuer, Rathaus, Finanzamt, Polizeikommissariat etc. etc. Jeder einzelne dieser Sätze ruft in einem die Gedanken an die eigenen Wege, Laufereien, Stunden des Anstellens, der Verzweiflung, des Hoffens wach. Die Sätze, die man da mitanhört, lauten etwa so: Eine Frau: „Meine Tochter ist in Palästina, ja, sie ist jetzt schon seit August dort, mein Sohn wird wohl auch bald nachfahren, ja, wir, ob wir hinauskommen, das weiß Gott allein, ja, wir haben Verwandte in Frankreich, die haben jetzt eingereicht für meinen Mann und mich, ich weiß nur nicht, was ich mit den Möbeln...“ -,,... war gestern beim amerikanischen Konsulat, um mich wegen der Wartenummer zu erkundigen.“ „... das Affidavit habe ich schon, ich muß aber jetzt noch wegen der Ausreisebewilligung . . .“ — ,.. der am Steueramt, der will uns nur schikanieren, jetzt verlangt er wieder, daß wir ihm...“ -,.... und seit wann ist er dort?“ „Na am 10. November ist er verhaftet worden, und dann hab’ns ihn nach Dachau geschickt... und jetzt bemüh’ ich mich für ihn eine Einreise nach...“ - „... Wie? Na alle 14 Tage bekomm’ ich von ihm eine Karte...“ — ,,... Na der von der Reichsfluchtsteuer...“ —,,... ich bin Arier, aber mein Mann und meine Kinder...“ - „... und jetzt schreibt er mir, daß er jetzt zu seinem Chef gehen wird, um auch für mich jetzt ein Permit zu bekommen... na als Hausgehilfin, damit auch ich nachkommen kann.“ - „... ach ja, es ist zum Aufhängen, was hab’ ich nicht alles versucht und nichts...“ —,,... da hab’ ich jetzt nochmals bei ihm vorgesprochen und darauf hingewiesen...“ Eine kleine Frau von ihrem Sohn, der in Dachau ist, weinend: „Ach mein glücklichster Tag wär’, wenn ich ihn wieder sehen könnt’ ...“