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Aus Österreich verjagt, kam ich im August 1938 als zehnjähriger mit meinen Eltern in Ungarn an. Meine Reaktion auf den Antisemitismus in Ungarn habe ich in „Wie aus mir kein Ungar wurde“ (ZW Nr. 4/2000, S. 38-39) geschildert. Keinen Moment suchte ich die Schuld bei mir: Als Schüler des Budapester Jüdischen Gymnasiums rebellierte ich gegen den demonstrativen Patriotismus „israelitischer Ungarn“ und gegen den obligatorischen Besuch der Synagoge. Wäre damals jemand von der illegalen kommunistischen Jugendbewegung an mich herangetreten, hätte ich mich wahrscheinlich den Kommunisten angeschlossen. Doch es war mein Schulkollege György Lissauer (Naftali Ayalon), der dies tat, und so wurde ich Mitglied der damals im Untergrund operierenden Jugendbewegung Haschomer Hazair. Diese Jugendbewegung, die einiges von den Pfadfindern tibernahm, wurde vor dem Ersten Weltkrieg in Wien gegriindet und verbreitete sich nach diesem Krieg in ganz Mittel- und Osteuropa, so auch in Ungarn. Ihre drei Grundsätze waren und sind: gesellschaftliche Gleichheit, nationale Unabhängigkeit und die Besinnung auf die jüdischen kulturellen und ethischen Werte. Diese zionistische und sozialistische Bewegung konnte in Ungarn nur wenige junge Juden erreichen. Zu stark war der Geist der Assimilation in Ungarn. Meine Verwandten in der Provinz vertrauten blind dem ‚„tausendjährigen ungarischen Christentum“ und glaubten, ihnen werde das Schicksal der Juden in Polen oder der Slowakei erspart bleiben. Die meisten bezahlten dies mit ihrem Leben. Im Haschomer Hazair spielten viele aus der Slowakei geflohene junge Juden eine führende Rolle, in der Regel waren sie im Judentum verwurzelter als die meisten ungarischen Juden und hatten — so wie ich — bereits die Erfahrung eines äußerst aggressiven Antisemitismus gemacht. Nach dem deutschen Einmarsch in Ungarn am 19. März 1944 hat der Haschomer Hazair alle seine Kräfte mobilisiert, um Juden zu retten. Die Geschichte dieser wahren Helden des Widerstandes wurde in Ungarn erst nach dem Fiasko des „realen Sozialismus“ publiziert. Unsere Jugendgruppe wurde von Jusuf Schönberger (Ben Porat) geleitet, dem Sohn eines jüdischen Pädagogen, der uns mit viel Geschick behandelte. Seine spätere Ehefrau Chava Ausländer versuchte 1944 Juden in der Provinz zu warnen, doch als Jüdin erkannt, wurde sie noch vor den Massentransporten nach Auschwitz deportiert. Unter der Woche trafen wir uns öfters in der Wohnung der Familie Lissauer, wo wir über Palästina und über die besondere Form des jüdischen Sozialismus in den Kibbuzim diskutierten. Sonntags machten wir in der Regel Ausflüge in die Umgebung von Budapest. Für mich, der ich meine Mutter 1941 verloren hatte, gab es damals nichts schöneres. Haschomer Hazair ersetzte für viele von uns die Familie. Als unsere Jugendgruppe am Abend des 22. Juni 1941 von einem Ausflug in den Hügeln von Buda zurückkam, erfuhren wir vom deutschen Angriff auf die Sowjetunion. Angst, aber auch Freude war unsere Reaktion. Wir hofften, dies wäre der Anfang vom Ende der Naziherrschaft. Der Sommer 1941, der 46 einen raschen Vormarsch der deutschen und ungarischen Truppen mit sich brachte, machte uns traurig. Doch wir setzten unsere Hoffnung weiter in die Sowjetunion. Im Sommer 1942 willigte mein Vater endlich ein, mich — sobald wie möglich — mit einem Jugendtransport nach Palästina ausreisen zu lassen. Nach langen Diskussionen hatte Chava ihn von der Richtigkeit dieses Entschlusses überzeugt. Der 24. Dezember 1942 war mein letzter Arbeitstag als Lehrling in einem Budapester Lederwarenbetrieb. Die mehrheitlich gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen schenkten mir für die Reise Bauernbrot, Äpfel und eine Speckseite. Einer sagte mir zum Abschied: „Du tust gut daran, Ungarn zu verlassen, es wird auch für uns Ungarn noch schwer werden, aber für euch Juden fürchterlich“. Erst lange nach dem Krieg sollte ich erfahren, daß der deutsche Außenamts-Staatssekretär Ernst von Weizsäcker Mitte Oktober 1942 den ungarischen Gesandten in Berlin empfing und betonte, „wie wichtig es sei, daß die ungarische Regierung der Aussiedlung der Juden nach dem Osten zustimme“.' In der zweiten Hälfte 1942 nahm der Krieg eine günstige Wendung für die Alliierten. Die ungarische Regierung war bereit, den Alliierten gegenüber ein Zeichen zu setzen und jüdische Jugendliche im Januar 1943 nach Palästina ausreisen zu lassen. Im Februar und März 1943 gelang es, noch je eine Gruppe von Budapest und Bukarest nach Palästina zu bringen. Am 5. Januar 1943 verabschiedete ich mich von meinem Vater, der es nicht übers Herz brachte, mich zum Bahnhof zu bringen, dies übernahm eine ältere Kusine. Bevor wir am Budapester Ostbahnhof in den Zug einstiegen, stellten wir uns am Bahnsteig auf und sangen leise die „Hatikva“. Das sahen deutsche Soldaten und Offiziere, die nicht wußten, wer da stramm stand und hoben ihren rechten Arm zum deutschen Gruß. Der gelbe Stern wurde in Ungarn erst nach der deutschen Besetzung im Frühjahr 1944 eingeführt, so daß sie uns nicht als „Untermenschen“ identifizieren konnten. Der Abschied war für mich schmerzlich. Ich verließ meinen Vater und viele Verwandte, die ich nie wieder sehen sollte. Die Tatsache aber, daß mein um 15 Jahre älterer Bruder bereits vor dem „Anschluß“ nach Palästina gegangen war, ließ mich hoffen, nicht ganz ohne Familie leben zu müssen. Selbstverständlich war auch eine Menge Abenteuerlust dabei, die meine Phantasie beflügelte. Mit meinem Transport konnten 50 Jugendliche — 20 Mädchen und 30 Burschen — Ungarn verlassen. Einige waren Flüchtlinge aus Österreich, Polen und der Slowakei. Wir hatten keine Ahnung, welche Gefahren uns auf dieser Reise drohten, und man hatte uns auch nicht über unseren Reiseweg informiert. Ein Teil von uns mußte unter falscher Identität reisen, darunter auch ich. In meinem ungarischen Paß war ein großer Stempel: „Darf nie wieder in das ungarische Königreich zurückkehren.“ Mir wurde ein zehnjähriger Bub, Sohn orthodoxer Eltern, die nach ihrer Flucht aus Österreich in Ungarn interniert waren, anvertraut, weil er nur deutsch sprach. Der Bub hatte ebenfalls Papiere auf einen fremden Namen erhalten und ich - ein Vierzehnjähriger — mußte dafür sorgen, daß er seine neuen Daten auswendig lernte.