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Mama wird verprügelt, aber schweigt. Und es ist keine Zeit mehr, die Kinder zu suchen. So bleiben wir am Leben, vorläufig. 860 österreichische Flüchtlinge wurden aus Belgien in den Tod deportiert. Nach einigen Monate in einem Waisenhaus werden wir durch den jüdischen Widerstand bei einer katholischen Familie in Gent versteckt, und so überleben Rita und ich die Shoah. Ein Drittel unserer Familie wurde vernichtet. 1945 _Rea, der jüngsten Schwester von Mama, gelingt die Flucht in die Schweiz, von wo sie bald wieder nach Paris kommt. Sie arrangiert unsere Rückkehr ins jüdische Waisenhaus. Tante Rea adoptiert Rita. Ich fahre 1947 nach Toronto, Kanada, wo die jüdische Gemeinde Waisenkinder adoptieren will. Das gelingt nicht so gut, aber ich bin schon einmal da. Höchst begabt, Goldmedaille in Mathematik bei der Matura, aber kein Geld für ein höheres Studium. Schwieriges Leben. Heirat mit einer Kanadierin. Zwei liebe Kinder. Zwei Enkelkinder. 1974 _ Erster Besuch in Wien. 35 Jahre vergangen. Finde den alten Sterneckplatz und Umgebung, die Bäckerei, wo wir Schlagobers kauften. Das Wohngebäude wurde im Krieg zertrümmert, hoffentlich auch der Arzt. Ich entdecke die Innere Stadt, die wir selten besucht hatten. Dann fahre ich zum Friedhof, um das Grab von Großmutter Ruchel zu suchen. Finde es am Rand, von Sträuchern überwachsen. Erst 25 Jahre später kann ich ihr einen Stein setzen. Kurt und Tina Tutter. Park am Sterneckplatz, um 1936 Foto: Kurt Tutter 56 keine Reue spüren. In den letzten zehn Jahre haben jüngere Journalisten und Historiker sich tüchtig mit der wahren Geschichte Österreichs auseinandergesetzt. Für mich ist dies ein wohltuender Trost. Immerhin bleibt eine Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, nach der Stadt meiner Kinderjahre. Als Bundeskanzler Vranizky 1995 die noch lebenden Exil-Österreicher einlädt, ihre Staatsbürgerschaft wieder anzunehmen, sagte ich mir ja, das mache ich mit. Bald fordert man von mir ein polizeiliches Leumundszeugnis, daß ich an keinerlei Verbrechen schuldig sei. Das hat man von den 660.000 österreichischen NSDAPMitgliedern wohl nicht verlangt, ehe man ihnen die Bürgerrechte kurz nach dem Krieg zurückgab. Ich lasse mich aber nicht irritieren und werde schließlich wieder amtlich registrierter Österreicher. Seitdem bin ich eine tiefere Verbindung mit meiner Heimat eingegangen. Viele Bücher gekauft. Lese Zeitschriften wie profil im Internet. 1998 organisiere ich in Toronto einen Benefizabend fiir den Verein Schalom, der viel fiir die Wiederherstellung jüdischer Friedhöfe in Österreich getan hat. Fahre auch öfters nach Wien, wo ich schon einige liebe Freunde gewonnen habe. Die Kontroverse um die Rachel Whiteread-Skulptur führt für mich zu der Einsicht, daß dieses "Mahnmal" am Judenplatz wieder nur einer mutlosen, ja feigen Ablenkung von der Erkenntnis des Geschehenen dient. Seit 1998 arbeite ich an einem Projekt für eine aufrichtige Gedenkstätte an die in der Shoah umgekommenen Juden Österreichs. Auf Granittafeln, in langen Reihen aufgestellt, sollen Namen und Geburtsdaten dieser 65.000 Märtyrer gemeißelt werden. Die Gedenkstätte soll Österreich auf ewig zum Gedenken an die einzelnen Schicksale dieser Frauen, Männer und Kinder aufrufen, die in Österreich gelebt, mit all ihrem Streben zu seinem Wohlstand beigetragen und das Land als ihre Heimat geliebt haben. Im März 2000 veröffentlicht das Wiener Journal meinen Artikel „Ein Mahnmal auf dem Heldenplatz“. Im Juni 2000 hatte unsere neu konstituierte Projektgruppe in Wien ihre erste Tagung. Wir erhalten Ermutigungen, werden aber auch von bürokratischen Hindernisse gehemmt. Es wird länger dauern als gedacht, aber wir bringen es doch zustande. Im Laufe der Jahre ist mir öfters vorgekommen, daß wir Exil-Osterreicher und die in der Heimat wohnenden Menschen nicht dieselbe Sprache reden. Mit dieser Gedenkstätte werden wir vielleicht wieder eine gemeinsame Sprache finden. Der Sterneckplatz, seit 1949 nach dem sozialdemokratischen Publizisten und 1937 im US-amerikanischen Exil verstorbenen Max Winter benannt, liegt im sogenannten Stuwerviertel, zwischen Ausstellungsstraße, Lassallestraße und Engerthstraße in Wien-Leopoldstadt. Der kaiserliche Admiral Maximilian Freiherr Daublebsky von Sterneck zu Ehrenstein (1829-1897) diente bei der Seeschlacht von Lissa als Linienschiffkapitän und findet sich daher auf dem bekannten patriotischen Ölgemälde Anton Romakos an der Seite Admiral Tegethoffs. — Die frühere Wohnung, die Kurt Yakov Tutter beschreibt, befand sich in der Arnezhoferstraße. Der Pfarrer Johann Ignaz Arnezhofer übrigens, nach dem die Straße benannt ist, war ein antisemitischer Prediger und als kaiserlicher Kommissär an der Austreibung der Juden aus Wien durch Leopold I. im Jahre 1670 beteiligt.