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In Theresienstadt Kommt ein Neuling zu uns her, wundert alles ihn gar sehr. Was, ich soll auf dem Dachboden schlafen? Mit diesen Kartoffeln will man mich wohl strafen. Hier soll ich wohnen, welch ein Hohn, der Fußboden ist ja aus Beton, und ich soll mich da niederlegen, in solchem Schmutze mich bewegen? Hier herrscht bei Tag und Nacht Verkehr, wo kommen so viel Fliegen her, sie können Krankheiten übertragen, mich beißt was. Sind’s Wanzen? Ich kann’s nicht sagen. Theresienstadt mutet mich schrecklich an, wann gehn wir nach Hause? Weiß wirklich nicht, wann. „Teddy“ Leseprobe der Zeitschrift Vedem, die im Verlauf von zwei Jahren regelmäßig im Ghetto erschienen ist. Foto: Jüdisches Museum Prag daß Kinder der Jahrgänge 1941 bis Kriegsende 1945 fehlten. Waren sie keine Opfer? Ist nicht zu befürchten, daß sich am „guten Glauben“, von dem Raphael Delpard schreibt, auch in Bezug auf die heute verfolgten Kinder kaum etwas geändert hat? Um den Langzeitfolgen kindlicher Verfolgungs- und Flüchtlingstraumata auf die Spur zu kommen, war es notwendig, Gesprächspartner zu finden, die im Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg Kinder waren. Uns war von vornherein klar, daß zu ihnen nicht ausschließlich Juden, sondern auch andere verfolgte Gruppen gehören müssen, um zu verallgemeinerbaren Untersuchungsergebnissen kommen zu können. Entsprechend unseren Fragestellungen und Thesen haben wir in den Tiefeninterviews darauf Wert gelegt, wirklich das ganze Leben unserer Gesprächspartner einzubeziehen. Bei vielen stießen unsere Fragen zu den Kinderjahren vor der Verfolgung und die Jahrzehnte nach der Befreiung auf Erstaunen; im allgemeinen beziehen sich Fragen zum Leben von Betroffenen nämlich fast ausschließlich auf die Zeit der Verfolgung selbst. Vierzehn der Interviewten stammten aus jüdischen Familien, elf aus Familien, die zwar Juden waren, aber als politisch Verfolgte emigriert waren; vier waren Kärntner Slowenen, zwei Roma, zwei politisch Verfolgte, zwei Sudetendeutsche, eine Donauschwäbin und zwei „Mischlinge“, bei denen nach NS-Diktion nur ein Elternteil jüdisch war. Elf von ihnen waren in einem Konzentrationslager, vier erlebten eine Vertreibung, neunzehn emigrierten (mit oder ohne Eltern) in verschiedene Länder oder wurden in der Emigration geboren; in der Emigration mußten acht als Kinder in Heimen oder bei Pflegeeltern versteckt werden, einer wurde in Wien im Versteck geboren. Ingesamt achtzehn der 38 Interviewten verbrachten die NS-Zeit und den Krieg von den Eltern getrennt. Zur Ergänzung unserer ausschließlich österreichischen (vor al Ei Wygbaiır eet ele IO A 4 2. ae lem Wiener) Tiefeninterviews wählten wir aus der ausländischen Literatur etwa vierzig vergleichbare Fallgeschichten aus, um unsere Thesen bei der Auswertung ergänzen beziehungsweise differenzieren zu können. Bei diesen Erzählungen handelte es sich ausschließlich um Juden, die die NS-Zeit als Kinder in verschiedenen Ländern in Lagern oder im Versteck überlebt hatten und erst nach dem Krieg in die USA, nach Kanada oder Israel emigriert waren. Vor Beginn der Auswertung hatten wir unsere Thesen von Wissenschaftlern und Therapeuten überprüfen lassen und machten uns schließlich auf die Suche nach einschlägiger Literatur, die sich mit Kindern und Jugendlichen befaßt. Zu unserem Erstaunen war die sehr geringe Zahl an Büchern, die sich mit unserem Thema auseinandersetzte, erst Anfang der 1990er Jahre und fast ausschließlich in den USA, in Großbritannien, Frankreich und in den Niederlanden erschienen. Und sie stammte ebenso fast ausschließlich von damals betroffenen jüdischen Kindern und Jugendlichen, die in ihrem letzten Lebensabschnitt nicht mehr damit fertig wurden, daß ihre Traumatisierung als Kinder überall und von allen bagatellisiert wurde und wird. Außerdem gibt es keine Literatur über Personen, die nach 1945 mit ihren Eltern nach Österreich oder Deutschland zurückgekehrt sind; eine deutsche Autorin, die sich mit damals deutsch-jüdischen Jugendlichen befaßte, suchte diese in erster Linie in den USA und in Israel, nicht aber in Deutschland und Österreich, womit — sehr aktuell — die große Bedeutung der Rückkehr in das Land der Verfolger ausgeblendet geblieben ist. Aber auch in dieser Literatur stehen vorwiegend damals Jugendliche im Mittelpunkt, vor allem in Bezug auf die Pubertät, während insbesondere kleine Kinder nicht vorkommen — was bei der Bedeutung, die den ersten Lebensjahren für die Entwicklung eines Kindes beigemessen 59