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wird, völlig unverständlich ist. Wenn überhaupt von Kindern die Rede ist, so handelt es sich um die sogenannte zweite Generation der nach 1945 Geborenen. Ge(Zer)störte Kindheit Zu den entwicklungspsychologischen Auswirkungen nach Verfolgung, Flucht, Versteck und Konzentrationslager bei Kindern gibt es noch weniger Literatur, zu den langfristigen Auswirkungen so gut wie keine. Daher auch hier nur einige Zitate. „Was mit den Kindern nach ihrer Befreiung geschah, hängt nicht allein von den Erfahrungen ab, die sie vor dem Holocaust gemacht hatten oder von den Qualen, die sie während des Holocaust durchstehen mußten. Ihr Schicksal wurde auch von den sozialen Umständen beeinflußt, in denen sie sich nach der Befreiung befanden. Manche entdeckten, daß sie auf dieser Welt niemanden mehr besaßen, andere dagegen konnten zu ihren Eltern zurückkehren oder fanden Verwandte, die für sie sorgten. Viele mußten in Heimen bleiben, während andere adoptiert wurden. Ein großer Teil von ihnen mußte allein mit seinen Sorgen fertig werden. Und noch mehr Kinder lebten von Tag zu Tag, stets gezwungen, sich an neue Umstände anzupassen. Die Situation war natürlich je nach Land, in dem sie schließlich Unterkunft fanden, verschieden. Anders als die Erwachsenen wollten sich die Kinder an das jeweilige Land, in dem sie sich befanden, assimilieren.“ (J. Kestenberg 1994). „Direkt nach dem Krieg trat ein anderes Problem in den Vordergrund: Die Rückkehr und das Schweigen der wenigen KZ-Überlebenden. Die Zahl derer, die heimkehrten, wurde auf etwa 2500 Personen geschätzt. Das Schweigen der Überlebenden bewirkte eine Art Konfrontation mit den aus ihren Verstecken herauskommenden Jugendlichen. Rosette Z. erinnert sich an Gesprächsversuche mit zurückgekehrten Deportierten: ‚Es war sehr schwierig, mit ihnen zu sprechen. Sie wollten nichts sagen. Und wenn man versuchte, von den eigenen Problemen als verstecktes Kind zu erzählen, wurde man mit Sätzen wie diesen zum Schweigen gebracht: Ihr könnt euch nicht vorstellen, was wir mitgemacht haben. Ihr seid am Leben und ihr seid gesund!’... Léon Z. merkt an: ‚Wenn man wie viele Menschen das Gliick hat, daB die Eltern am Leben sind, oder Schwestern und Briider, kann man sich Begebenheiten oder Menschen, die man gekannt hat, gemeinsam vergegenwärtigen. Aber wir haben niemanden mehr, der unsere Fragen beantwortet. Wir können nur selbst irgendwie versuchen, die Leerstellen zu füllen. Und das ist nicht so einfach. Mir fehlen über mehrere Jahre ganze Zeitabschnitte; ich habe das Gefühl, als fehlte mir ein Bein oder eine Hand.’ ... Diese Halb-Generation, wie die Generation der versteckten Kinder genannt wurde, sucht heute die fehlenden Stücke ihrer Geschichte. Sie hat ihr Leben auf Stützpfeiler gebaut und mußte ihre Instabilität lange Zeit ausbalancieren.“ (Delpard 1994). „Die Welt der überlebenden Eltern ist damit kein Hort der Sicherheit und Geborgenheit, sondern gefährlich, und das Kind, das wie alle Kinder allein verletzbar ist, kann sich das Sicherheitsgefühl, das Kinder brauchen, nicht von Eltern borgen, die sich in der Welt sicherer fühlen. Die Bindung an die Eltern ist ambivalent, weil diese einerseits den gefährlichen Holocaust repräsentieren und andererseits auch den Schutz davor, da sie ihn überlebt haben. Umgekehrt können sich Kinder auf ihrer Suche nach Schutz auch der Welt anderer anschließen und sich an Freunde oder Partner binden, die sich von ihnen unterscheiden oder einen für sie fremden Beruf und Lebensstil 60 haben. In beiden Fällen hindert eine Loyalität, die Individuation ausschließt, die Kinder von Holocaust-Überlebenden an ihrer vollen Selbstverwirklichung. Ihre eigene Welt wird zunehmend irrealer als die vom Genozid geprägte Welt der Eltern.“ (Laub 1995). „Viele Kinder, die dank der Anwesenheit und Anstrengungen eines Elternteils überlebten, kamen im späteren Leben besser zurecht als die, deren Erfahrungen mit dem Leben im Versteck sich primär auf Verlassensein, Vernachlässigung oder Mißbrauch beschränkten. So ungeheuerlich das auch klingen mag, man muß doch sagen, daß es für sie besser war, Augenzeugin des Mordes an ihrer Mutter und ihren beiden Brüdern zu sein, als die endlose Angst der Kinder erdulden zu müssen, deren Familienmitglieder bei Nacht und Nebel verschwunden waren. Diese Kinder können weder ihre verschwundenen Lieben noch ihre Hoffnung, daß sie eines schönen Tages gesund und wohlbehalten wieder auftauchen, begraben. Yaffa hingegen war dabei, als ihre Mutter und ihr kleiner Bruder begraben wurden. Dadurch verlor ihre Wunde an Schärfe, vielleicht sogar an Tiefe. ... Für manche ehemals versteckten Kinder war die Anpassung an ein neues Leben leichter, wenn kein Elternteil zurückkehrte. So konnte sich das Kind in eine Pflege- oder Adoptivfamilie einfügen, anstatt mit der Trauer eines gebrochenen Elternteils leben zu müssen. Eigentlich war es die Aufgabe der kleinen Kinder, die Wunden ihrer Eltern zu heilen. Und meistens taten sie das auch.“ (Stein 1995). „Einen weiteren Identitätsaspekt, der nach der Verfolgung wieder aufgebaut werden muß, bildet das Gefühl der Zugehörigkeit (sense of belonging, Kestenberg & Kestenberg, 1988). Das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören, weder zu einer sozialen Gruppe, noch zu einem Land oder einer Altersgruppe, zeigte sich besonders bei Kindern und Jugendlichen nach der Verfolgung. Diese versuchten, es durch vermehrte Adaptionsbemühungen an einen neuen sozialen Kontext, an eine veränderte Kultur oder an ein anderes Land zu kompensieren, und suchten in besonderem Maße nach Anerkennung und Akzeptanz. Nach klinischen Beobachtungen blieb jedoch bei vielen das grundlegende Gefühl von Einsamkeit zurück (Kestenberg & Kestenberg, 1988).“ (Quindeau 1995). Zu den bittersten Kindheitserinnerungen gehören die Erinnerung an die Trennung von einem Elternteil. Davon ausgenommen sind nur Kinder, die sehr früh zu guten Pflegeeltern kamen. „Je jünger die Kinder waren, desto weniger erinnerten sie sich an ihre Eltern und umso stärker wurde die Bindung an ihre Pflegeeltern.“ (vgl. Laub) — was bei vielen, die später von ihren leiblichen Eltern zurückgeholt wurden, neben bisher latenten Traumatisierungen zum ersten konkreten Trauma führte. Eine zentrale Bedeutung von Kindheitserinnerungen liegt in der Identität. Werden die Erinnerungen von Kindern durch Erwachsene — aus welchem Grund auch immer — bagatellisiert, geleugnet oder als unrichtig bezeichnet, werden die Heranwachsenden nicht nur von ihren Gefiihlen, sondern von ihrer gesamten Identität abgeschnitten. Rückkehr in die „Heimat“? Die Rückkehr Verfolgter, Vertriebener, Versteckter und Emigranten in ihre Heimat scheint vordergründig die für sie beste Möglichkeit zu sein — sie ist jedoch — oft mangels anderer Alternativen — nur das kleinste Übel. Zweifellos, sie kehren in ein Land zurück, dessen. Sprache sie sprechen und deren