OCR
Für Kinder ist gut nachvollziehbar, wer die Guten und wer die Bösen sind; schlechte Pflegepersonen erleben sie jedoch früh als Dilemma, weil sie die Guten gleichzeitig als böse erfahren. Je jünger Kinder sind, desto stärker erleben sie vieles, das für Erwachsene traumatisch ist, als „Normalität“. Sie haben noch keine Identität, kein klares Weltbild, keine fertige Moral und keine Zukunftsvorstellungen, die umgestoßen werden; sie leben nur in der Gegenwart und sind anpassungsfähig. Im Mittelpunkt steht die Erfahrung von Einsamkeit, von Verlassen-Sein und dem Gefühl, von den Eltern im Stich gelassen worden zu sein, weil diese entweder von ihnen getrennt oder nur mit sich selbst beschäftigt sind. In psychischen Auswirkungen manifestiert sich diese Phase bei Kindern und Jugendlichen erst viel später als bei Erwachsenen. Viele Kinder und Jugendliche erlebten die Jahre nach der Befreiung traumatischer als die Zeit vorher, in der sie noch auf die Eltern hofften und überzeugt waren, daß alles wieder gut würde. Sofern die Eltern oder ein Elternteil überlebt hatten, waren sie mit deren Trauma konfrontiert, von ihnen aber noch abhängig. Religiöse und politische Fragen wurden zum Drama, auch die Trennung von Pflegeeltern verstärkte die bereits bestehende Traumatisierung. Als besonders schlimm erlebten die Kinder und Jugendlichen das Schweigen der Eltern, das Schweigen in der Gesellschaft, die Bagatellisierung ihrer Erlebnisse („du warst noch so klein, du kannst dich an nichts erinnern“) und das Nicht-Anerkennen ihrer seelischen Leiden, die bei manchen zu massiven Briichen fiihrten und bei den meisten ein Leben lang anhielten. Von besonderer Bedeutung in dieser Situation war die Riickkehr in die Heimat (der Eltern) und das (Wieder)Erleben von Diskriminierung, also eine Kumulation von individuellem und gesellschaftlichem Trauma. Eine große Rolle dabei spielt auch die gesellschaftlich allgemein anerkannte „Hierarchie der Opfer“, die gleichzeitig eine „Hierarchie der Traumatisierung“ bedeutete. Der holländische Therapeut Johann Lansen betonte bei der Tagung im Juni 1998 in Göttingen, daß es falsch ist, daß Kinder keine Erinnerungen haben, weil sie dazu zu klein waren. Später bleibt ein Teil von ihnen das Kind von damals, während der andere Teil als Erwachsener erfolgreich ist; die Balance zwischen diesen beiden Teilen bleibt sehr labil. Ebenso sprach sich Johann Lansen gegen eine Hierarchie der Traumatisierung aus, also dagegen, daß Auschwitz das Schlimmste und das Überleben etwa in einem Versteck für Kinder weniger traumatisierend war. Waren sie im Versteck von den Eltern getrennt, war die spätere Sozialisation durch die Erfahrung des Verlassenwerdens und der Schutzlosigkeit besonders erschwert. Die für die Erwachsenen so bedeutungsvolle „Heimat“, bei ihnen verbunden mit bewußten Erfahrungen, spielt für Kinder keine Rolle; für sie sind Heimat die Familie und die Menschen der unmittelbaren Umgebung. Entgegen bisherigen Untersuchungen ist die nicht bewußte, also nur indirekt durch die Eltern erlebte Verfolgung in den ersten Lebensjahren von großer Bedeutung. Das unbewußt aufgenommene Trauma schlägt sich bei diesen Personen vor allem bei der Identitätsfindung nieder. Dabei gibt es auch nach Beendigung der Verfolgung mehrere Brüche: die Befreiung, oft gleichbedeutend mit der Enttäuschung der Nicht-Anerkennung des Traumas beziehungsweise der weiteren Diskriminierung; die Pubertät; die Unmöglichkeit der Abgrenzung von den ebenfalls traumatisierten Eltern; die Erfahrung, daß die in der Verfolgungszeit entwickelte „Identität“ nicht mehr der Realität entspricht. 62 Im späteren Leben wird deutlich, daß die als Kinder rassisch, ethnisch oder religiös Verfolgten ihre Skepsis und ihr Mißtrauen gegenüber der Heimat der Eltern (in Bezug auf die NS-Zeit also Österreich und Deutschland) nie abgelegt haben, auch wenn dies in den Jahren „danach“ manchmal so ausgesehen hat. Es gelingt ihnen — wie auch ihrer Umwelt — nie, zu einer auch nur einigermaßen unbefangenen Beziehung zu ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit zu kommen. Nur wenige versuchen, sich der Täter- und MitläuferGesellschaft anzupassen und in dieser die Rolle als AlibiObjekte zu spielen. Je jünger die damaligen Kinder bei Beginn der Verfolgung waren, desto ausführlicher sprachen sie über die bewußt erlebten Jahre nach der Befreiung beziehungsweise Rückkehr. Wahrscheinlich erlebten die älteren Kinder die Verfolgungszeit bereits bewußt und mit eigenen Erlebnissen, die nun die Jahre danach zunächst überlagerten. Bei den Jüngeren kommt die Zeit der Verfolgung mit ihren Auswirkungen erst viel später, wenn ihnen alles bewußt und erklärbar wird, zum Tragen. Da die Fixierungsstelle des Traumas bei den Jüngeren sehr früh liegt, erlebten sie die Skepsis der Eltern gegenüber ihren Erinnerungen oft lebenslang belastend, da ihnen die Grundlage für ihre Identität fehlte. Als besonderes Problem stellte sich für die Kinder nach 1945 — oft ebenfalls lebenslang - die politische oder religiöse Überzeugung der Eltern, wenn diese die Ursache für die Verfolgung war. Studien haben ergeben, daß etwa assimilierte Juden die Verfolgung noch massiver erlebten als religiöse oder Zeugen Jehovas. Schon im „normalen“ Leben werden Kinder durch eine Ideologie oder dogmatische Religiosität der Eltern eingeschränkt und manipuliert. Verstärkt durch das Erlebnis der Verfolgung erwarteten beziehungsweise forderten dogmatisch religiöse und Widerstandskämpfer-Eltern von ihren ebenfalls überlebenden Kindern ein hohes Maß an Identifikation sowohl mit ihrer Überzeugung als auch mit der eigenen Leidenserfahrung, wobei sie darüber hinaus die Leidenserfahrung der Kinder ignorierten. Die Schlußfolgerungen für die Situation heutiger Flüchtlingskinder liegen auf der Hand: auch die Kleinsten werden durch die Erlebnisse der Eltern schwer beeinträchtigt, insbesondere auch durch die gesellschaftliche Atmosphäre, in der diese leben (müssen). Je jünger Kinder sind, desto mehr sind sie den Ängsten ihrer Familie, der Diskriminierung durch die unmittelbare Umwelt und der gesamtgesellschaftlichen Atmosphäre ausgeliefert und in ihrer körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung schwer gestört. Die Bedürfnisse und Interessen der Kinder sollten immer Vorrang haben. „Man sagte uns, daß wir Glück gehabt hätten, und trotzdem erinnerten wir uns oft nur an Trennungen, die Fahrten ohne Wiederkehr und die dauernde Angst. Der Weg in die Zukunft war steinig, wir gründeten Familien, machten Karriere, schufen uns finanzielle Sicherheit und traten in Vereine ein — kurz gesagt: wir lernten, normal aufzutreten, und erreichten eine ganze Menge, aber im Innern blieben wir ruhelos. Viele kämpfen mit dem ohnmächtigen Schweigen noch heute, weil sie keine andere Alternative haben. Wir fühlen uns an vielen Orten daheim, aber kein Ort ist ein wirkliches Zuhause. Aus unserer Kindheit vertrieben und unfähig, woanders Wurzeln zu schlagen, pendeln wir ständig zwischen Exilen hin und her.“ (Stein 1995).