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Grauen und dem Tod, oder die Zeit in Verstecken. Die dritte traumatische Sequenz beschreibt die Zeit nach der Befreiung, die von einer schwierigen Rückkehr und Wiedereingliederung in eine anders gewordene Welt gekennzeichnet ist. Waren die Verfolgten in der zweiten Sequenz meist auf die Abwehr des traumatisierenden Geschehens konzentriert, wurde diese Abwehr nach der Befreiung inadäquat und oft lebenshinderlich. Außerdem hatten die „Überlebenden“ meist in einer verleugnenden Umwelt zu leben: Die Nazis und die postfaschistischen Gesellschaften leugneten die Massenmorde und das Ausmaß der Verfolgung in ihrer ganzen Bedeutung, daher durfte und konnte das Leid der überlebenden Verfolgten nicht anerkannt werden. Nur zaghaft und verschämt, fast insgeheim, wurde den Opfern der nationalsozialistischen Gewalt Entschädigung zugesprochen. In den Nachuntersuchungen der Extremtraumatisierten ergab sich, daß diese dritte Sequenz als „eingreifendste und schmerzlichste ihres Lebens“ empfunden wurde.‘ Die Rückkehr von extremtraumatisierten Kindern und Jugendlichen in zivilere Gesellschaften muß schwieriger gewesen sein als jene von traumatisierten Erwachsenen, weil sie sich zumeist als Waise nach unfaßbaren Gewalterlebnissen zurechtfinden mußten. Ein Milieu zu entwickeln, das imstande ist, seelisch schwer verwundete junge Menschen aufzufangen, war und ist eine überfordernde Aufgabe. Keilson bilanziert nüchtern und traurig: „Für die Betroffenen bleibt die wenig ermutigende Erkenntnis, daß Menschen imstande sind, einander mehr zuzufügen, als andere zu heilen vermögen.‘” Außerdem ist ein zentraler Gedanke seiner Arbeit, daß eine Extremtraumatisierung bei Kindern und Jugendlichen sich massiver auswirkt als eine bei Erwachsenen, weil sie ein integraler Bestandteil der Entwicklung der jungen Persönlichkeiten werden mußte. In seiner quantifizierenden Analyse fand Keilson, daß ein Zusammenhang zwischen dem Alter der jung Traumatisierten und dem Charakter ihrer Störungen besteht. Menschen, die als kleine Kinder schwer traumatisiert wurden, neigen eher zu charakterneurotischen Störungen, während Menschen, die in der Adoleszenz traumatisiert wurden, meist unter chronischreaktiven Depressionen zu leiden haben. Wenn die Traumatisierung in der präpuberalen Phase erfolgt ist, kommt es häufig zu einer angstneurotischen Entwicklung. Ich möchte hier aber betonen, daß Hans Keilson das Schicksal der ihm anvertrauten Menschen nicht mit klinischen Kategorien abgewehrt hat, sondern selbst in seiner wissenschaftlichen Auswertung wird noch sichtbar, wie menschlich und stiitzend er sich seinen Patienten zugewandt hat. Abschließend stelle ich mir vor, daß Hans Arbeit aushalten konnte, weil er seinem Leben immer wieder andere Seiten abgewann. Er scheint sich den professionellen Fallen des Therapeutenberufes entzogen zu haben und war zum Beispiel sein ganzes Leben auch ein erfolgreicher Schriftsteller.® Anmerkungen 1 Hans Keilson: Das Leben geht weiter. Berlin 1933. (Neuauflage mit dem Untertitel: Eine Jugend in der Zwischenkriegszeit, Frankfurt/ M. 1984). 2 Zahlen nach: Enzyklopädie des Holocaust, Berlin 1993. 3 Hans Keilson, unter Mitarbeit von Herman R. Sarphatie: Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Deskriptiv-klinische und quantifizierend-statistische follow-up Untersuchung Sigrid Faltin Chronistin in dunkler Zeit. Die Freiburger Journalistin Käthe Vordtriede Unter diesem Titel strahlte der Südwestrundfunk am 6. Januar und am 18. Februar 2001 einen Film über Käthe Vordtriede, die erste Freiburger Journalistin, aus. Wir haben die Filmautorin Sigrid Faltin um einen Bericht über ihre Arbeit an dem Film gebeten. - Über ihr Zusammentreffen mit Käthe Vordtriede schrieb, wie erinnerlich, in ZW Nr. 4/2000, S. 36 f., Shulamit Arnon. — Red. Sie war eine „Powerfrau“: Journalistin, Politikerin, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, eine Sozialistin aus dem Großbürgertum: Käthe Vordtriede. Was hätte alles aus ihr werden können — eine Alice Schwarzer, eine Gräfin Dönhoff? Die Nazis machten aus ihr — eine jüdische Putzfrau. Drei Fotoalben und 150 Briefe im Deutschen Literaturarchiv in Marbach und ein 80-seitiger Lebensbericht — das ist übrig geblieben vom Leben Käthe Vordtriedes. Die Fotoalben im Vordtriede-Nachlaß erzählen von Käthes Kindheit in Herford in Westfalen. Die Mutter starb 1892. Käthe und ihre Brüder wurden vom Vater, einem wohlhabenden Kaufmann jüdischer Abstammung, evangelisch erzogen. Käthe Blumenthal war eine glänzende Partie, als sie mit 19 den Herforder Schokoladenfabrikanten Gustav Adolf Vordtriede heiratete. Der Erste Weltkrieg erschütterte Käthes Leben, privat und politisch. Sie war gegen den Krieg, und das war man nicht in ihren Kreisen. Noch während des Krieges trennten sich Käthe und ihr Mann. 1918 trat sie, die Tochter aus höherem Hause, in die SPD ein. Kurz darauf zog sie nach Freiburg, wo sie zunächst als Sekretärin und freie Journalistin, später als SPD-Redakteurin und Politikerin arbeitete. zum Schicksal der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden. Stuttgart 1979, S. 2. 4 DÖW: Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten. Wien 1992, S. 604. 5 Enzyklopädie des Holocaust, Bd. 2, 999ff. 6 H. Keilson, Sequentielle Traumatisierung bei Kindern, 58. 7 Ebenda, 70. 8 Hier die erfolgreichsten noch nicht zitierten Bücher Hans Keilsons: Komödie in Moll (Amsterdam: Querido 1947, Neuauflage Frankfurt/M. 1988); Der Tod des Widersachers (Braunschweig 1959; Neuauflage Frankfurt/ M. 1989); Wohin die Sprache nicht reicht (Essays — Vorträge — Aufsätze 1936-1996, Gießen 1998). 1933, da war sie 42 Jahre, belegten die Nazis sie mit Berufsverbot — aber sie schrieb trotzdem weiter: pointiert und hellwach, sarkastisch und humorvoll. In Briefen an ihren Sohn Werner, in einem Beitrag zu einem Preisausschreiben der Harvard-Universität 1939/40 beschrieb sie die Gleichschaltung Freiburgs: wie ihre Redaktionsräume von den Nazis verwüstet wurden; wie der Blockwart und ihre Nachbarn sie als bekennende Sozialdemokratin bespitzelten; wie sie die „Schutzhaft“, die schleichende Ausgrenzung, den Verrat von Freunden, den Judenboykott, die Pogromnacht erlebte. Ihre Briefe und ihre Autobiographie sind im Libelle-Verlag veröffentlicht und haben über Freiburg hinaus für Furore gesorgt. Kritiker nannten die Briefe die „Klemperer-Tagebücher Freiburgs“. „Ich wünschte, der Herr Professor Klemperer wäre 73