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wohnte und wo sie 1964 starb, zeigten wir alten Menschen Fotos der Rentnerin Kathe — niemand konnte sich an die Frau erinnern. Völlig verzweifelt schlug ich schließlich jeden Namen im New Yorker Telefonbuch nach, den Käthe in ihren Briefen an ihren Sohn in den 1950er Jahren erwähnt hatte. Bei dem Namen „Zappler“ („Zapplers werden meine Bestattung bezahlen (wenn sie nicht mehr leben, der Sohn), es ist reichlich Geld dafür da aus meinen Leihgaben an sie.‘“) schien ich auf eine heiße Spur gestoßen zu sein. „This is my exhusband“, erzählte eine Mrs. Zappler, die im Telefonbuch verzeichnet war. Er würde in Texas wohnen und sich bei mir melden. Tatsächlich rief Mr. Zappler zwei Tage später an. Tatsächlich war er der Sohn von österreichischen Emigranten und tatsächlich gab es damals nur eine einzige Familie Zappler in New York. Aber Käthe Vordtriede? Sorry, daran konnte er sich nicht mehr erinnern ... Nach der Filmpremiere schrieb die „Badische Zeitung“, Freiburg: „Sigrid Faltins sorgfältig und in der künstlerischen Bildgestaltung aufwändig gearbeiteter Filmbeitrag deutet die hinter den Fakten stehenden Tragödie an, ohne sie voyeuristisch auszubeuten.“ So bleiben drei Fotoalben und 150 Briefe in Marbach, und eine Filmrolle in Oldenburg, die an Käthe Vordtriede erinnern. Zwei Bücher, ein Straßenname in Freiburg und jetzt dieser Film wollen dafür sorgen, daß diese ungewöhnliche Frau auch in Zukunft nicht vergessen wird. Filmtip: „Chronistin in dunkler Zeit — Die Freiburger Journalistin Käthe Vordtriede“ ist als VHS-Kassette erhältlich bein SWR Media Gmbh Mittschnittdienst, D-76530 BadenBaden gegen einen Verrechnungsscheck von 49 DM (bitte Erstsendedatum 6.1. 2001 angeben!) Buchtips: Es ist mir noch wie ein Traum, daß mir diese abenteuerliche Flucht gelang. Hg. von Manfred Bosch. Lengwil Libelle Verlag. Es gibt Zeiten, in denen man welkt. Hg. von Detlef Garz. Lengwil: Libelle Verlag 1999. Susanne Alge „Ein schönes Buch über eine schwierige Zeit“ — so sagte Norbert Simon, der Geschäftsführer des Verlags Duncker & Humblot, in dem der Band Paris — eine neue Heimat? Jüdische Emigration aus Deutschland 1933-1939 erschien, bei dessen Präsentation. Es handelt sich dabei um die Dissertation von Julia Franke, die — so sagt sie in der Einleitung - einen Mangel der Exilforschung darin sieht, daß diese in Frankreich fast ausschließlich das Land des „politischen und intellektuellen Exils“ sehe, sich also hauptsächlich um Prominente kümmere und nur am Rand auf die „jüdische Emigration‘ eingehe. Natürlich seien unter den prominenten Emigranten auch Juden gewesen, aber diese Tatsache werde sträflich vernachlässigt. In ihrer Ansicht werde sie auch von Wolfgang Benz bestätigt, dessen Buch Das Exil der kleinen Leute jedoch von einer „Überblicksdarstellung zur jüdischen Emigration aus Deutschland“ weit entfernt sei. So weit, so erstaunlich. Noch erstaunlicher ist, daß Franke zur Untermauerung ihrer Thesen gleich in der Einleitung unter anderen Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Leo Lania, Alfred Kantorowicz, Rudolf Olden und Steffie Spira zitiert. Kleine Leute! Allerdings gibt Franke selbst zu, daß die Unterscheidung in „politische Exilanten“ und ‚„jüdische Emigranten‘ nicht immer ganz eindeutig festzulegen sei. Außerdem wäre es schade, bekanntere Namen gänzlich auszuklammern, „da es mehr Quellen und Literatur über sie gibt“. Diese Einsicht konnte sie nicht davon abhalten, ihre Arbeit auf der Basis der von ihr behaupteten Unterscheidung durchzuführen, wobei sie für die von ihr untersuchte Personengruppe den Begriff „passivpolitische Emigration“ einführt. „Der Begriff“, so argumentiert sie, „trifft den entscheidenden Punkt dieser Emigration: Die Politik veränderte ihr Leben, ob sie es wollten oder nicht, auch wenn sie sich nicht für sie interessiert hatten oder nicht genug, um sich aktiv für sie zu engagieren.“ Kurz darauf schreibt sie zu den Gründen, aus denen viele dieser „passivpolitischen“ jüdischen Menschen zu emigrieren gezwungen waren: „Da war der Journalist, der politische Kommentare geschrieben hatte, der Rechtsanwalt, der Kommunisten verteidigt hatte, der Student, der Mitglied einer pazifistischen Jugendorganisation war, der Künstler, dessen Kunst zwar unpolitisch, aber avantgardistisch war — sie alle bekamen die Auswirkungen des neuen Regimes schnell zu spüren.“ Journalisten, die politische Kommentare schreiben, unpolitische Journalisten? Es kommt aber noch härter: „Nun konnten Nichtjuden, die derart [sozusagen „zweiten Ranges“] dem Druck der Nationalsozialisten von Anfang an ausgesetzt waren, Kompromisse schließen, das ‚Maul halten’ und dann ohne allzu große Beeinträchtigungen in Deutschland weiterleben — wenn sie dazu bereit waren.“ Genau! Hätte der Lübecker Patriziersohn Heinrich Mann sein loses Mundwerk . . . Um gerecht zu sein: Das Buch enthält nicht nur solche Stellen, die zu Schreikämpfen führen könnten. Die junge Autorin war bei der Präsentation sympathisch, schon allein, weil sie in ihrem „Anti-Promi-Anliegen“ glaubhaft und rührend naiv wirkte. Sie hat auch, das macht ihr Buch ganz klar, eine unglaubliche Materialfülle be- und eingearbeitet. Erschrekkend finde ich, daß ein „gestandener‘ Historiker Prof. Dr. Gerd Krumeich hat die Dissertation an der Uni Freiburg betreut — eine Arbeit zuläßt, deren Fragestellung und deren Basis so verworren ist und teilweise von Fehleinschätzungen geradezu strotzt. Dies gilt besonders für das Kapitel „Deutschland: Herkunft und Emigrationsentschluß“. Das liest sich über weite Strecken derart unhistorisch, als hätte Lieschen Müller gerade eben erfahren, daß der Faschismus keine gute Sache, sondern im Gegenteil von ganz ganz bösen Menschen erdacht worden sei. Und nun hört Lieschen sich um, und wo immer es einen Satz zum Thema aufschnappt, macht es sich seine Gedanken dazu und kommt zum Beispiel zum Schluß: „Manchmal konnte es auch ratsam sein, über ein Drittland einzureisen ...“. Tja, wenn bloß der gute Rat manchmal nicht so teuer und der Zwang nicht so furchtbar zwingend gewesen wäre... Das Buch wird etwas erträglicher, wenn es um die Situation in Paris geht. Franke arbeitet hier mit einer Datenbank, in der sie um die 1.400 (ihrer Meinung nach) „passivpolitische“ Emigranten erfaßt und Berufsgruppen zugeordnet hat. Man muß an Statistiken glauben, um ein solches Verfahren interessant oder informativ zu finden, aber immerhin kommt sie damit zu quasi-allgemeinen Angaben in Prozenten ausgedrückt, was Wohnverhältnisse, Gruppenbildungen, Einstellungen zur Emigration etc. betrifft. Da ihr die schlichten Zahlen wohl selbst etwas mager vorkamen, bezieht sie zur Vorsicht noch Ergebnisse der Oral History, Interviews, Autobiografien und Romane mit ein. Und da fängt der Salat wieder an: zwar druckt sie brav ihre Diagramme ab, erläutert sie dann aber meistens in Lieschen-Müller-Manier oder holt einen Roman zu Hilfe. Was Franke anstrebt, der generalisierte Überblick zu den jüdischen Emigranten in Paris 1933-1939 im Gegensatz zu den unzähligen monographischen Darstellungen, mißlingt ihr wider Willen laufend, eben weil sie diese individuellen Darstellungen als Zeugnisse heranzieht, deren Differenziertheit aber ignoriert. Unbewußt verrät sie sich durch ihre Sprache, denn trotz des statistischen Verfahrens überwiegen als „Zahlenangaben“ Pronomen wie manche, etliche, viele. Der Vermutungen im Konjunktiv sind übrigens unzählbar überwiegende. Erträglicher ist dieser Teil nur insofern, als keine grundlegend falschen Behauptungen aufgestellt werden, die einen oder anderen Daten tatsächlich verwendbar scheinen und die systematischen Angaben über verschiedene französische Archive (im Anhang) aufschlußreich sind. Mein Zögern, einen scharfen Verriß zu schreiben hat — in Abwandlung eines berühmten Zitats — wohl eher damit zu tun: Man merkt die Absicht und ist nachsichtig gestimmt. Zweifellos hat Julia Franke mit großem Enthusiasmus, mit wahrscheinlich noch größerem Fleiß gearbeitet und ihre Danksagungen lassen auf kontinuierliche wissenschaftliche Betreuung (nicht nur durch den „Doktorvater“) schließen. Mich beunruhigt an dieser Stelle das Unterschreiten eines intellektuellen Mindestniveaus, was das politisch75