historische Basiswissen anlangt. Wie kann es
geschehen, daß — durch mehrere Instanzen
hindurch — ein dermaßen blauäugiges Werk¬
lein erscheint? Daß der FAZ-Kritiker Hans
Fenske der Autorin „ein sehr differenziertes
und instruktives Bild der deutschjüdischen
Emigration“ bescheinigt, ist wahrscheinlich
logisch, daß Alfred Grosser es lobt, ist mir un¬
verständlich.
Enthusiastische, blauäugige, fleißige Studen¬
tinnen eignen sich sicher bestens dazu, „schö¬
ne Bücher über schwierige Zeiten“ zu
verfassen. Hier merke ich Absicht. Und bin
sehr verstimmt.
Wolf alias Zeevs
Emigrationen
Wolf Zeev Ehrenberg wurde 1926 in Süd¬
deutschland geboren. Im gleichen Jahr veröf¬
fentlichte Hitler seine Hetzschrift „Mein
Kampf“. Darin war u.a. vorgesehen, daß Wolf
als Jude in Deutschland seinen sechzehnten
Geburtstag nicht überleben sollte. Doch es
kam anders.
Die Familie Ehrenberg befand sich 1933 unter
den knapp 80.000 deutschen Jüdinnen und
Juden, die nach Palästina auswanderten. Dem
Vater, der als Zahnarzt in Pforzheim¬
Brötzingen tätig war und sich für zionistische
Ideen begeisterte, fiel die Entscheidung zur
Auswanderung, nachdem am 15. Mai 1933
den jüdischen Ärzten die Kassenzulassung ent¬
zogen worden war, nicht schwer. „Daß sie der
vorzeitigen Vernichtung entkommen würden,
verdanken sie vor allem zwei Umständen: der
eine war, daß sie unter viel größerem materi¬
ellen Druck standen als die jüdischen Ärzte
und Anwälte in einer Großstadt wie Berlin, die
genügend ‚nichtarische” Kundschaft für ein
Auskommen hatten; der zweite war, daß sie
nicht, wie viele andere nach Frankreich oder
gar Holland gingen, wo sie nach Kriegs¬
ausbruch in der Falle sitzen würden.“ (32) Der
damals siebenjährige Autor wurde plötzlich
vom Rand des Schwarzwaldes an den Rand
des Mittelmeeres katapultiert.
Wolf und seine Eltern ließen sich in der
hauptsächlich von Jüdinnen und Juden aus
Osteuropa bewohnten Ortschaft Bne Brak in
der nähe von Tel Aviv nieder. Die neue Um¬
gebung brachte für Wolf auch einen neuen
Namen mit sich. Er hieß fortan „Zeev“ (he¬
bräisch „Wolf‘“‘). Im Gegensatz zu seinen
Eltern kam er mit den neuen Lebensbe¬
dingungen gut zurecht. Die Beschreibung sei¬
ner Kindheit und Jugend ist von Spannungen
zwischen säkularem und orthodoxem Juden¬
tum bzw. denen zwischen ost- und westeu¬
ropäischen Jüdinnen und Juden geprägt. Der
junge Zeev entwickelte zudem früh Sensibili¬
tät für den sich anbahnenden Konflikt zwi¬
schen der arabischen und jüdischen
Bevölkerung Palästinas. „So sehr man aber
bemüht war, dem Nachwuchs das Leben sei¬
ner Vorväter im Ghetto näherzubringen, so
wenig erfuhr dieser über das Leben der im
gleichen Land lebenden Araber. Es war üblich
von ‚unseren arabischen Nachbarn‘ zu spre¬
chen, was zwar sehr freundlich klang, doch zu
gar nichts verpflichtete.“ (140)
1946 verließ der zwanzigjährige Zeev das jü¬
disch-orthodoxe Milieu, in dem er aufge¬
wachsen war, um in der Schweiz an der
Eidgenössischen Technischen Hochschule in
Zürich Ingenieurwissenschaften zu studieren.
Widerwillig mußte er wieder den ihn befrem¬
denden Namen „Wolf“ annehmen — mit einem
Federstrich machte der dreisprachige britische
Mandatspaß aus Zeev wieder einen Wolf.
Seine damaligen Eindrücke von der Schweiz
umfassen das Spektrum von Bewunderung bis
Ablehnung. Im Land das sich die Tradition
des Roten Kreuzes und des politischen Asyls
auf die Fahnen geschrieben hatte, sah er sich
einer „hermetisch zugeknöpften Gesellschaft“
(172) gegenüber, die er vergeblich zu begrei¬
fen versuchte. „Es fehlt ihm ja nichts, er lebt
in einer Oase des Friedens, doch er fühlt sich
einsam und entwurzelt. Die Menschen hier
sind höflich und rücksichtsvoll, auch verlä߬
lich und pünktlich, aber eben sehr reserviert!
Besonders die Männer haben einen ernsten
Gesichtsausdruck, nie wird hier jemand
schreien, aber auch nicht laut lachen.“ (186)
Nach seinem Studium arbeitete Zeev
Ehrenberg als Ingenieur in Baden. 1952 hei¬
ratete er und seine Integration in die helveti¬
sche Wirklichkeit machte Fortschritte. 1962
wechselte er schließlich an die Ingenieur¬
schule in Biel, wo er bis zu seiner Pensionie¬
rung als Dozent tätig war.
Während der Jahre als Dozent in Biel, setzte
er sich intensiv mit den Problemen des wis¬
senschaftlich-technischen Fortschritts, seinem
Mythos der Wertfreiheit auseinander. „Seine
kritische Einstellung zu vielen Aspekten der
Technik bringt ihn weniger in einen Zwiespalt
als manche der Kollegen. [...] Eine hundert¬
prozentige Identifikation mit einer Arbeit, die
so viele problematische Auswirkungen auf
Umwelt und Gesellschaft hat, wäre ihm gar
nicht möglich gewesen.“ (212) In besonderem
Maße engagiert er sich u.a. bei Amnesty
International für die Menschenrechte palästi¬
nensischer Menschen, mit denen er seine alte
Heimat teilt. Doch das Wort „Heimat“ hat der
Kosmopolit Ehrenberg (“the world’s now my
country“ [223]) aus seinem Vokabular gestri¬
chen, da es allzuoft zum politischen Schlag¬
wort verkommt. Dieser politischen Definition
setzt er die Kategorie des Gefühls — ein
Konglomerat der Erinnerung — entgegen und
zieht es vor, von verschiedenen „Heimaten“
[es gibt keinen Plural] zu sprechen, die er über
Sprachen definiert: „Vom Englischen, das für
ihn seit seiner Jugend die Dimension einer
geistigen Heimat hat, trotz der seltenen Gele¬
genheit ... Vom Hebräischen, das für ihn im
Tiefsten immer noch den unmittelbarsten
Bezug zu den Gefühlen herstellen kann. Und
das Hochdeutsche? Wenn er es als Erwach¬
sener hörte, erinnerte es ihn an das Elternhaus,
und er empfand dabei eine Mischung aus
Nostalgie und leichtem Unbehagen. Sowohl
als ‚guter Schweizer‘ wie auch als ‚guter Jude‘
sollte er es eigentlich ablehnen.“ (234/235)
Wolf Zeev Ehrenbergs Buch ist eine Collage
aus Erinnerungen, Tagebuchaufzeichnungen,
Briefen und Reflexionen, die er aus der Fülle
von Erlebnissen seiner Kindheit, Jugend und
jungen Erwachsenenalters geschöpft hat. Mit
seiner einfachen Sprache fängt er Stimmungen
und Bilder ein, um sie in einem größeren
Kontext aus persönlicher Perspektive zu inter¬
pretieren. Dabei ist er ein aufmerksamer Zeit¬
Zeuge, der manchmal auch zum rückwärts¬
gewandten Propheten wird. Wolf Zeev Ehren¬
berg sucht nicht die Assimilation an „eine“
Gesellschaft, sondern er will sich in sie als
Persönlichkeit integrieren. Dies ist besonders
in einem Land, daß von „Fremden“ die völli¬
ge Assimilation fordert, mehr als bemerkens¬
wert. So schließt das über mich erstellte Gut¬
achten zur Erteilung der Schweizer Staatsbür¬
gerschaft von 1992 (!) mit dem Satz: „Er kann
als voll assimiliert betrachtet werden.“ Worte
über die man nach der Lektüre von Wolf Zeev
Ehrenbergs Buch nochmals nachdenken muß!
Zsolt Keller
Wolf Zeev Ehrenberg: Emigrationen. Lebens¬
stationen eines Juden aus Deutschland,
Zürich: Chronos 2000. 263 S., 33 Abb. SFr u.
DM 38,-/ATS 300,¬
Zwei Zeugnisse über
Theresienstadt
Zwei Bücher von zwei Frauen, einer Dänin
und einer Tschechoslowakin, die das KZ
Theresienstadt überlebt haben, zwei subjekti¬
ve Berichte stellvertretend für all jene, die den
Schrecken nicht überlebt haben, um Zeugnis
abzulegen für kommende Generationen sowie
um die Erinnerung wachzuhalten für jene, de¬
nen das Grauen der Vergangenheit nach wie
vor gegenwärtig ist. Die eine hatte 35 Jahre
lang geschwiegen, die andere 50 Jahre.
Melanie Oppenhejm lebte in geordneten
Verhältnissen und engagierte sich dafür, daß
deutsche jüdische Kinder bei dänischen
Familien Aufnahme vor Verfolgung fanden.
Bald nach der Okkupation Dänemarks wur¬
den sie und ihr Mann, ein Anwalt, zusammen
mit ihren beiden jüngeren Kindern ins KZ
Theresienstadt verschleppt. Viele Juden konn¬
ten nicht glauben, was ihnen bevorstand, wei¬
gerten sich, die geplante Vernichtung als
Realität anzusehen. Etwa der königlich däni¬
sche Richter, der mit den Oppenhejms die
Zelle teilte und sich keines Vergehens für
schuldig hielt, der an den Werten Moral, Recht
und Unrecht festhielt: Bis an sein Ende blieb
ihm unbegreiflich, was man ihm antat.