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Theresienstadt, als Festungsanlage für 7.000 Mann erbaut, von 40.000 Menschen „bewohnt“... „Es war uns streng verboten, mehr als 25 Worte im Monat zu schreiben.“ Weil sie Briefe an ihre Angehörigen aus dem Lager geschmuggelt hatten, wurden drei Tschechen gehängt. Ständig von der Angst gequält, „nach Osten“ transportiert zu werden, ohne zu wissen, welches Schicksal sie dort erwartete. Durch ihre Bekanntschaft mit Dr. Paul Eppstein, einem Mitglied des Ältestenrats, der für die innere Organisation des Lagers zuständig war, kannte Melanie die Wahrheit über diese Transporte. Durch die Nennung von Lebensmittelgeschäfte oder Wendungen wie „wir lesen wieder Hamsuns berühmtestes Buch“ versuchten sie, Freunden trotz Zensur ihre Lage mitzuteilen. „Schikanen gehörten zum Alltag ... Fußtritte, Schläge und Haft, Entzug von Essensrationen und Extrahunger.“ Kleinste „Verfehlungen“ konnten mit dem Tod bestraft werden. Im selben Karren wie die Toten wurde das Brot transportiert. Man begreift nicht, zu welcher Niedertracht die Nazi-Bonzen fähig waren. Aus Rache für die Niederlage von 1918 mußten am 11. November 1943, dem Jahrestag des Waffenstillstands, sämtliche Insassen des Lagers, etwa 40.000 Menschen Aufstellung nehmen und auf ein freies Feld marschieren: . Kleinkinder und uralte Menschen mit Krücken und Stöcken, in eisiger Kälte und Regenwetter. Die SS-Männer gingen mit ihren Hunden herum und Gnade Gott dem Armen, der ein wenig aus dem Glied geraten war. Die Leute zitterten vor Angst... Einer half dem anderen, wo es möglich war. Ich kann mich erinnern, daß ein alter Mann vor uns stand. Mein Sohn streckte sein Knie heraus, so daß der Mann sich zwischendurch einen Augenblick auf seinem Knie ausruhen konnte. Beinahe sechzehn Stunden standen die Menschen, ohne sich zu rühren. Plötzlich erstarrte die große Menge. Den Nazis war eingefallen, Jagdbomber ganz niedrig über uns hinwegfliegen zu lassen. Wir glaubten, unsere letzte Stunde sei gekommen. Sachlich schildert Melanie Oppenhejm die Greuel, ohne Haß, dennoch könnte man verzweifeln bei der Lektüre, würde sie nicht auch von Begebenheiten, in denen Menschen unter Lebensgefahr einander beistanden. Überlebensnotwendig für die Betroffenen war es, trotz allem, die Würde zu bewahren. Wenn die Transporte nach Auschwitz abgingen, wurde den Häftlingen alles abgenommen, absolut alles: Ich mußte Prothesen entfernen. Haben Sie jemals einem lebenden Menschen ein Auge herausgenommen? Ein Glasauge? Zähne, die genau sortiert wurden? Künstliche Arme mußten rechts liegen, Beine links. Die Prothesen sollten deutsche Soldaten bekommen. Und diesen armen Menschen mußte ich die Prothesen abnehmen. Sie waren selber Soldaten der deutschen Armee gewesen, hatten von 1914 bis 1918 für das Vaterland gekämpft und Leib und Leben riskiert. Der geplanten Vernichtung des Lagers durch die Nazis mitsamt allen Insassen, als das Ende des Krieges bereits absehbar war, kamen die Russen zuvor. Zdenka Fantlova war ebenfalls mehrere Jahre in Theresienstadt inhaftiert. Die Tochter eines wohlhabenden tschechischen Eisenhändlers wurde mit einem Schlag aus der Idylle ihrer Jugend gerissen, denn auch ihr Vater schätzte die Gefahr, die seiner Familie drohte, nicht richtig ein. Nur Zdenka überlebte den Holocaust. Fantlovä erzählt von ihrer Kindheit und Jugend, den Vorfahren, der ersten Liebe, ganz harmlos fängt ihre Geschichte an. Mit einem Mal ist es ihr untersagt, weiter die Schule zu besuchen; in Deutschland gab es bereits die Schilder vor Parkanlagen: „Zutritt für Hunde und Juden verboten!“ Das Englische Institut in Prag ignoriert die deutschen „Rasse-Gesetze“, so daß sie wenigstens diese Sprache erlernen kann. Der Vater verbietet ihr, als Hausgehilfin nach England zu gehen. Weil ihn ein Nachbar denunziert, verbotenerweise BBC gehört zu haben, wird er verhaftet. Zdenka soll ihn niemals mehr wiedersehen. Bald danach wird die gesamte Familie deportiert. Theresienstadt wird für die Mutter, den Bruder, die Schwester und den Bräutigam zur Zwischenstation auf dem Weg in den Tod. Zdenkas Schilderungen des Alltags von Theresienstadt sind eine Ergänzung des Berichts von Melanie Oppenhejm. Eine Theatergruppe formiert sich, immerhin sind zahlreiche Profis unter den Häftlingen: Autoren, Bühnenbildner, Musiker, Schauspieler, Maler. Zdenka schließt sich an. „Profis und Amateure arbeiteten gleichberechtigt mit- und nebeneinander. Jeder gab sein Bestes, ohne Neid und Wichtigtun.“ Die Stücke werden als politische Parabeln verstanden. Doch die Reihen lichten sich: Die einen werden nach Auschwitz transportiert, andere sterben an Unterernährung oder sonstiger Krankheiten. Medikamente gibt es nicht. „Wir tanzten unter dem Galgen.‘“ Dennoch stärken die Aufführungen den Überlebenswillen der Inhaftierten. Zdenka, ihre Mutter und ihre Schwester werden in einen Viehwagen getrieben. Ziel unbekannt. Auschwitz. An der Rampe wird sortiert: nach links die Alten und die Mütter mit Kindern, nach rechts die Jungen. „Deine Mutter ist in den Schornstein gegangen.“ Zdenka hält den Landsmann für verrückt. „Alle, die nach links geschickt wurden, gingen in den Schornstein.‘ Sie begreift die Wahrheit nicht. Kahlgeschoren, ohne Habseligkeiten - stets in Angst, ob die Dusche echt oder eine Gaskammer ist? An ihrer Seite die Schwester. Solidarität untereinander. Die Frage, was ist richtig, was falsch? Sich zu einem Arbeitseinsatz melden, oder ist es eine Falle? Wird sich der SS-Mann an sein Versprechen halten? Ist das Gas in den Rotkreuz-Wägen? Risiko, Gefühl, Glück. Zdenka meldet sich zu einem Arbeitseinsatz: Bei minus 20 Grad, bekleidet nur mit einem Ballkleid, ohne Mantel und Kopfbedeckung, in zu großen Männerschuhen, müssen die Frauen einen Schützengraben ausheben, zu fünft Baumstämme schleppen, kein trockenes Gewand zum Wechseln, keine Decke, die wenigstens des Nachts wärmt. Von der Decke der Hütte hängen Eiszapfen. Plötzlich muß das Camp geräumt werden. Gerücht, daß die russische Armee näher rückt. Kranke werden erschossen. Zehn Tage lang ohne Schlaf, ohne Nahrung bei eisiger Kälte durch den Schnee stapfen. Wer nicht Schritt hält, erfriert. Die Frauen finden heraus, daß man auch schlafend weitergehen kann: abwechselnd wird eine in die Mitte genommen und von den anderen gestützt. Neben all dem Leid begegnet ihnen immer wieder auch Menschlichkeit. Sie erreichen das Lager Groß-Rosen. Stehend in einen Kohlenwagen gepfercht weiter nach Mauthausen, am Boden des Waggons Leichen, Zdenka hält sich an den Zähnen eines Toten fest, sie selbst sind „lebende Leichname“. Zdenkas 16jährige Schwester ist schwanger, als sie sich in der Nacht vor dem Abtransport aus Theresienstadt von ihrem Freund verabschiedet, nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht. Das weite Gewand verbirgt ihren Zustand. Vor Erschöpfung und Unterernährung stirbt eine nach der anderen von Zdenkas Leidensgenossinnen. Auf einer Tafel bei den Geleisen stand BELSEN. ... Und ich ahnte nicht, daß Belsen das überhaupt schlimmste aller Lager sein würde, die wir kennengelernt hatten. Diese waren die Vorhöfe der Hölle gewesen, Belsen war die Hölle selbst. Zu alldem kommt noch eine Typhusepedemie hinzu. Die Nazis sperren das Wasser ab. Die Häftlinge trinken das Wasser, mit dem die Wäsche gewaschen wurde. Zdenkas Schwester verliert ihr Kind, der Embryo fällt in die Latrine. Als Zdenka sich — gegen alle Verbote an das Krankenlager schleicht, ist die Schwester bereits tot, 17 Jahre alt. Ein paar Tage später befreiten die Engländer das Lager Belsen. Ein unbekannter britischer Soldat bringt Zdenka ins Spital. Sie wiegt 35 Kilo. Diese beiden Bücher zu lesen tut weh, man sitzt auf einem bequemen Sofa, trinkt und raucht. Und liest Zdenkas Worte: Die Welt wird sich weiterdrehen — hat sie eine Chance, besser zu werden? Die menschliche Natur wird sich nicht ändern, und niemand wird aus der Geschichte lernen wollen. Daran WILL ich nicht glauben, denn es gibt WENIGSTENS die Biicher von Mélanie und Zdenka! Oder geht es mir wie all jenen, die das Unfaßbare nicht wahrhaben wollten? Manfred Chobot Melanie Oppenhejm: Theresienstadt. Die Menschenfalle. Aus dem Dänischen übersetzt von Dietmar Possart. München: Boer Verlag 1998. 96 S. OS 263,-/DM 36,Zdenka Fantlovd: „In der Ruhe liegt die Kraft“, sagte mein Vater. Aus dem Tschechischen von Pavel Eckstein. Mit einem Vorwort von Jiri Grusa. Bonn: Weidle Verlag 1999. 206 S. OS 307,-/DM 42,-/SFr 39,60 77