OCR
Centre“ und „Young Austria“. Aus dem Rahmen fällt auch Jörg Thuneckes und Richard Rundells Beitrag „Unbekannte ‚Szenen’ aus dem Exil des Stückeschreibers Erich Fried“ (S. 149-168), eine Aneinanderreihung von Inhaltsreferaten, in deren einem, „Oesterreichspiel: Gaismair ueberquert die Alpen“ (S. 163£.), es aus Unkenntnis der österreichischen Geschichte auch noch zu einem kommentatorischen Tohuwabohu kommt. Da wird der frühneuzeitliche Bauernrebell Michael Gaismair (um 1490-1532) als „fiktive Figur“ bezeichnet, ein Wahl- und Fahnenspruch aus dem Oberösterreichischen Bauernkrieg von 1626 mit Florian Geyer (1490-1525) in Verbindung gebracht und das „Florian-Geyer-Lied“ als „Geyern-Lied‘“ apostrophiert. An autobiographischen und dichterischen Dokumenten aus der Exilzeit bieten die Herausgeber bislang ungedruckte Gedichte, Tagebuchnotizen und Briefe aus dem Nachlaß Frieds im Österreichischen Literaturarchiv: „Es ist sehr lehrreich, seine Sachen von einem ganz anderen vorgelesen zu hören“. Notizen aus dem Dezember 1940 (S. 57-59) Bekannte und unbekannte Gedichte aus dem Exil (S. 60-83) (Abschied von Wien, Früh um Viertel sieben geht man aus dem Haus..., Judas Weg, Emigrantenlied, Totes Haus, Ein Jahr Internierung, Das Verstehen, Vor der Ankunft, Auf dem Vormarsch, Heimkehrer, Dichter im Exil, Einigen Gefallenen, Notgesang 1. und II., An Oesterreich, Truemmer) Ein Lord und zwei mal zwei Flüchtlinge. Eine autobiographische Geschichte aus dem Band „Mitunter sogar Lachen. Zwischenfälle und Erinnerungen“ (1986) (S. 91-93) „Ein Bund für die Entfaltung und Pflege von Kultur unter den Emigranten“. Notizen aus dem März 1939 (S. 94f.) „Ich lese jetzt ‚Das Kapital’“. Aus einem Exiltagebuch, 6. Dezember 1939 bis 20. November 1941 (S. 131-148) „Weil künstlerische Zielsetzung, Weltanschauung und mein Lebensplan ein Unteilbares für mich sind“. Zwölf Schreiben an Gerti und Lux Furtmüller (1940-1945) (S. 201-254) Die detailreiche Kommentierung der Texte erlaubt eine umfassende politik-, exil- und alltagsgeschichtliche Kontextualisierung. Da auf die Nennung des Kommentators oder der Kommentatorin konsequent verzichtet wird (womöglich ein unbeabsichtigtes Indiz dafür, daß positivistische Knochenarbeit selbst unter jenen, die sie betreiben, als nicht signierungswürdig angesehen wird), kann hier niemandem Beifall gezollt werden — bedauerlicherweise, zumal sich gerade aus den Fußnoten in Kombination mit der „Chronik“ (S. 256-270) eine sozial- und mentalitätsgeschichtliche Miniatur des österreichischen Exils in Großbritannien zeichnen läßt. Schlaglichtartig beleuchten die Texte die familiäre und berufliche Situation des Vertriebenen; seine vielfältigen kulturellen und organisatorischen Aktivitäten in Emigrantenzirkeln; die Rettungsversuche Gefährdeter in Hitlerdeutschland (u.a. mit dem gefälschten Briefkopf eines nicht existierenden Lords, vgl. S. 91); Freunde, Genossen und Dichterkollegen; das politische Selbstverständnis des kritischen Kommunisten; nicht zuletzt die erotischen Verwirrungen des knapp Zwanzigjährigen, der in all seinem seelischen, existentiell bedrohlichen Elend auch wohl zur Arznei der Selbstironie greift. Tagebuch und Brief sind ihm nicht nur Medium der politischen, erotischen und moralischen Selbstvergewisserung, sondern auch Deponie von Alltagskram. Als weiterführende Lektüreempfehlung eine kleine Blütenlese: „Denk nicht an dich! Seid doch nicht so ehrgeizig“. (1940, 5. 58) „Da sind wir alle -— arbeiten an einer Sache - an einer großen Sache — - aber fühlen sie nicht alle so ähnlich — Ja: das Ziel gibt Halt.“ (1940, S. 58) „Gledanke]: 34 Form + % Erkenntnis Kunst = 0“ (1939, S. 133) „Ich bin fertig mit: Gesundheit, Nerven, Literatur, Zita, Judith, EJ., Politik, Erna — Fazit!“ (1940, S. 134) „Das Bücherbrett mit Büchern u. Geschirr fiel von der Wand[,] 2 Teller, 1 Schale und 1 Untertasse zerbrachen. — Ich verbrachte %% Stunde mit Ordnung-machen. — No ja — I sh Schaden. —“ (1940 S. 136) „Der Londonkampf dröhnt und droht — vor mir am Boden ein offener Koffer: Auswahlkoffer.“ (1940, S. 138) „Rilke [...], der bestimmt ein viel größerer Lyriker war als Goethe und doch unter ihm steht, weil seine Lyrik Todeslyrik ist. Bei ihm ist das Versinken in das Selbst so deutlich ausgebildet. — Welch ein Glück, daß es so ein wunderschönes Selbst ist.“ (1940, S. 216) Als Lesebuch mit biographisch-exilgeschichtlichem Unterbau ist der Text- und Materialienband überaus ergiebig — schade nur, daß auf die Erstellung eines Personenregisters infolge pekuniärer Probleme verzichtet werden mußte. Beatrix Müller-Kampel 126, Westbourne Terrace. Erich Fried im Londoner Exil (1938-1945). Texte und Materialien. Hg. von Volker Kaukoreit und Jörg Thunecke unter Mitarbeit von Beate Hareter. Im Auftrag des Österreichischen Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek und des Bezirksmuseums Alsergrund (Wien). Wien: Turia + Kant 2001. 271 S., zahlreiche Abb. ÖS 350,-/DM u. SFr 50,— „wortlaut“ — eine beachtliche Literaturzeitschrift Geschwätzigkeit droht alles zu übertönen. Die bedeutenden Worte kommen bekanntlich leise daher, aber in den Ohren und Seelen der ewig Widerspenstigen klingen sie umso lauter. So beherzt wie selbstbewußt, so professionell wie klug erscheint seit zwei Jahren die Literaturzeitschrift „www.wortlaut.de“ im Internet. Zweimal jährlich gibt es sie auch in einer 70seitigen Druckausgabe zu 6 DM. Sie wurde von Angehörigen verschiedener Fakultäten der Universität Göttingen gegründet. Die AutorInnen in der Regel alle unter 30 Jahre alt! Die erste Online-Zeitschrift, die vorwiegend Rezensionen belletristischer Werke veröffentlicht. Es sind mittlerweile über 130, alle paar Tage kommen neue hinzu. Die bewußt einfach gestalteten (welch seltene Wohltat!) Webseiten beinhalten aber auch äußerst anspruchsvolle Lyrik, Kurzprosa und Essays sowie Interviews und Porträts, Kolumnen und Filmbesprechungen. Auch die Links (Verbindungen) zu Literaturseiten, AutorInnen, Buchhandlungen und Verlagen bieten Anspruchsvolles. Der zweisprachig aufgewachsene Bosnier Harris Dzajic (geb. 1973, er studiert Literaturwissenschaft und Jus) ist in seiner Funktion als Chefredakteur Garant für die Qualität der Zeitschrift. Besonderes Augenmerk verdienen die umfangreichen slawischen Bezüge. Hier werden nicht nur die neuiibersetzten — insbesondere jungen — polnischen AutorInnen und ihre Bücher vorgestellt, sondern auch die vom Literaturbetrieb und Publikum weitgehend unbeachteten jungen Bosnier und Kroaten, die mit ihren Werken seit dem Krieg eine völlig neue literarische Ära eingeläutet haben. Kurz gesagt: in „wortlaut“ werden die deutschen Literaturverhältnisse — z.B. die Verlage überbieten sich mit Spitzentantiemen für die allerjüngsten Lifestyle-AutorInnen - aufs gehaltvollste konterkariert. An der von der Kritik durchwegs gehätschelten Schickeria wird folglich kein gutes Haar gelassen. Kracht, Stuckrad-Barre, Naters, aber auch die preisgekrönte Röggla und Franck — hier wagt jemand, klare Worte zu sprechen: Letztlich Abklatsch der Wirklichkeit, jeder noch so flüchtige Blick unter die Oberfläche wird vermieden, die Figuren kreisen um sich selbst. Keine Spur ironischer oder sonstiger Distanz, kein Funken Phantasie oder Poesie, von Kritik oder Erzählen ganz zu schweigen. Maria Wölflingseder www.wortlaut.de (Redaktion wortlaut, c/o Hainholz Verlag, Wagnerstraße 6, D-37085 Göttingen). 81