OCR
LITERATUR ge 18. Jg. Nr. 3b Oktober 2001 Das Mitleid Mit zwei Zitaten wurde zu dem Kolloquium eingeladen. Das eine Zitat, von dem rumänisch-französischen Schriftsteller Panait Istrati, stammt aus dem Jahre 1933. Das Zitat spiegelt bereits den gefährlichen Triumph sozialdarwinistischer Ideologeme in Europa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Ich weiß: gelehrte Freunde erinnern mich unablässig an die Biologie und deren Gesetze. Nein, nein! [...] Ich weigere mich, den Menschen dem Raubvogel gleichzustellen... Ich bin ein Mensch, und das heißt, das einzige von allen Geschöpfen des Tierreichs, das beim Anblick der Leiden von seinesgleichen mitleidet. Istrati votiert angesichts der zur Mileidlosickeit entschlossenen Zeitgenossen für das Mitleid als „condition humaine“. Das andere Zitat, von Oswald Oberhuber, dem österreichischen Nachkriegskünstler, der es nicht nur als Maler zu Ruhm und Ehre gebracht hat, sondern auch als Gestalter von Gedenkausstellungen an die Zeit des Nationalsozialismus hervorgetreten ist, stammt aus dem Jahre 1998. Ist nicht jener Realismus Unsinn, der Not und Elend erfaßbar machen möchte? Ist ein Künstler in so großer Not, daß das Elend ihn erfaßt, so wird er kaum bereit sein, dies zu bezen, um zu Erfolg und Brot zukommen. [...] Wer klagt, hat keine Kraft, etwas zu gestalten. Und nur jener wird das Leid des anderen beschreiben, der sich in Mitleid ergeht. lichkeit, jedenfalls ein zu überwindender Zustand und nicht „condition humaine“. Er schreibt weiter: Das menschlich Reale ist vielmehr die Triebhaftigkeit, das uneingeschränkte Bedürfnis, alles zu erobern, wonach es einen gelüstet .. Die Initiatoren ie Franz Kain Kolloquiums, Erich Hackl, Konstantin Kaiser und Walter Wippersberg, wollten eine von der Literaturwissenschaft zunehmend vernachlässigte, von der Literaturkritik heute verschmähte und verhöhnte Haltung diskutieren, eine Frage stellen, die peinlich ist, ein Problem erörtern, das einer allmählichen Tabuisierung unterworfen scheint. Veranstaltet wurde das Kolloquium vom Adalbert-StifterInstitut (Linz), von der Theodor Kramer Gesellschaft (Wien) und vom Neuen Forum Literatur (Losenstein), und zwar mit Unterstützung des Landes Oberösterreich und der Stadt Linz. Am ersten Abend lasen die AutorInnen Erich Hackl, Eugenie Kain, Walter Kohl, Anna Mitgutsch, Walter Wippersberg eigene literarische Arbeiten, an denen sich das Thema des Kolloquiums erörtern ließ. Am zweiten Tag folgten zwei Vorträge von Andreas Tiefenbacher („Die Eingefahrenheit. Ein Goiserer Singsang“ — Reminiszenz auf Franz Kains Heimatort) und Konstantin Kaiser („Die Anästhesie des Mitleids in der Empfindsamkeit“; hier nun mit geändertem Titel abgedruckt). Anschließend fand das Kolloquium der AutorInnen (Moderation: Siglinde Bolbecher) statt. Ihre Statements sind in vorliegendem Supplement zu den Zeitschriften der Theodor Kramer Gesellschaft und des Neuen Forums Literatur, 99 bzw. Zwischenwelt dokumentiert. Nicht dokumentiert sind die lebhaften Diskussionen, die sich an die Stellungnahmen der AutorInnen anschlossen. Diese zeigten freilich auch, daß die heute bestehende Bildung den Menschen nicht gerade die Fähigkeit vermittelt, auf dem ziehen. Und mit der Frage des Mitleids begibt man sich unweigerlich auf das Terrain des Moralischen. Für Unterstützung der Drucklegung danken wir der Oberösterreichischen Landesregierung und der Stadt Linz. Inhalt Franz Kain 2. Schreiben im Gefängnis und i im n Lager Franz Kain 3 Österreich ist wieder frei Erich Hackl 5 Ohne Vorbehalt, unbehaust Eugenie Kain 6 Mitleid - eine Annäherung Walter Kohl 8 „Nicht flennen in Zeiten widriger > Winde“ Walter Kohl 9 „ritzen“ Anna Mitguisch 11 Mitleid in der Literatur Walter Wippersberg 13. Das Wort Mitleid ... Skeptischer Versuch übers Mitleid und die Anästhesie der Empfindsamkeit Die Eingefahrenheit. Ein Gezwitscher Konstantin Kaiser 14 Andreas Tiefenbacher 17